„Ich habe auch ein Buch geschrieben“

„Ich habe auch ein Buch geschrieben“

Liebe Leute, diesen Spruch höre ich bei JEDER Lesung, bei jedem privaten Treffen, an dem ich mich als Autorin oute. Immer wenn ich sage, dass ich schreibe, höre ich – meine Omma, Tante, Onkel, die Nachbarin, der Rektor der Schule, auf der ich mal war, hat auch ein Buch geschrieben. Okay. Die meisten dieser Bücher liegen in irgendeiner Schublade oder als Datei auf dem Computer. Oder sie sind diesen Weg gegangen –  (bitte bis Teil 5 lesen. Danke noch mal an Tom Liehr für diesen erhellenden Beitrag).

Omma, Tante und Nachbar sind eines – wenn man selbst schreibt, ist es etwas anderes. „Ich habe ein Buch geschrieben!“ Die meisten sagen dies stolz, einige aber verschämt, mit gesenktem Kopf und eingezogenen Schultern, so als würden sie eine Last tragen. Dabei haben sie sich diese Last doch gerade von der Seele geschrieben. Mindestens 80% dieser Bücher sind nämlich Lebensgeschichten. Die eigenen. Memoirs. Erinnerungen. Beichten.

Ein Abarbeiten an Wörtern wie Klippe und Berghänge.

Das ist alle ganz legitim und eine gute Art, Probleme zu bewältigen. Aber muss das an die Öffentlichkeit? Muss die Welt das lesen?

Ich frage mich das, weil ich seit einiger Zeit für eine Literaturagentur arbeite und natürlich immer wieder Memoirs auf den Tisch bekomme. Ergreifende wie banale Lebensgeschichten. Ergreifend im weitesten Sinne und banal im engsten. Wer will das lesen und wissen – das müssen Sie sich fragen, nicht bevor Sie das schreiben, denn Dinge runterzuschreiben, loszuwerden, das ist gut, das befreit. Das ist legitim. Aber müssen das andere Menschen lesen? Tante, Onkel, Mutti und Vati, Nachbarin und beste Freundin werden fast alles, was Sie schreiben, toll finden. Aber die Welt? Die Leute aus der Nachbarstadt, die Eltern der Mitschüler Ihrer Kinder, Leute die Sie beim Einkaufen treffen? Menschen, die Sie nie im Leben kennen lernen werden und die aber vielleicht trotzdem beim Kaffee über Sie und Ihr Buch reden werden – und zwar schlecht reden werden. Können Sie den Gedanken ertragen? Macht er Ihnen nichts aus?

Gut, dann zurück zur ersten Frage – muss man das lesen? Lesen wollen?

Ich lese viel. Auch gerne Lebensberichte, wenn sie interessant sind. Die Memoirs, die ich hin und wieder lese, sind über den Schreibtisch von Leuten wie mir gegangen, durchs Lektorat, Korrektorat, die Vertreterkonferenz und andere Verlagshürden, in beliebiger Reihenfolge. Zig Menschen – nicht Omma, Opa, Tante und beste Freundin haben ihre Begeisterung geäußert – die Geschichte muss schon außergewöhnlich und sehr gut sein, bevor sie gedruckt werden wird.

Mein Opa, meine Tante, ICH habe eine tolle Lebensgeschichte und will sie veröffentlichen. Eine tolle Geschichte generiert nicht immer einen Verlagsvertrag – und soll das auch wirklich jeder lesen? Wirklich? Ganz wirklich? Überlegen Sie gut und gründlich.

Schreiben Sie es auf. Das sollten Sie machen. Aber eine Schublade ist ein guter Ort für schlechte Erinnerungen. Darin sind sie sicher. Wenn sie freigelassen werden, können sie ungeahnte und unerwünschte Effekte erzielen. Absagen vom eigenen Leben tun weh, denn es ist doch eigentlich so wichtig – für Sie. Schlechte Kritiken muss man ertragen können. Das ist nicht einfach. Eine Schublade aber hält dicht. Sie ist besser als die beste Freundin, denn eine Schublade trinkt nie und kann nichts ausplaudern.

Memoirs sind wichtig. Lebenserfahrungen auch. Doch überlegen Sie gut, ob Sie die Schublade öffnen.

Meint ganz herzlich

Ulrike Renk

 

Teilen:

Ein Gedanke zu „„Ich habe auch ein Buch geschrieben““

  1. Ein dankenswerter Beitrag, Eintrag für jeden der irgendwann, irgendein Buch mal geschrieben hat.
    Gerade, weil mit „Komawache“ auch in meiner Familie so ein auch geschriebenes Buch entstanden ist, hat mich dieser Beitrag berührt. Es stimmt! Er stimmt! Die Motivation zur „Komawache“ war eine furchtbare, erlebte Erkrankung zu überstehen. Erst im zweiten Gedanken wurde die Veröffentlichung dann angegangen. Mein erster Verlag war einer, der sich erst einen Namen machen musste und der inzwischen nicht mehr existiert. Wir wurden gelobt, wir wurden „gelobhudelt“, wir waren zu stolz das zu erkennen und das Aufschreiben unserer Erlebnisse, Gedanken und Gefühle half uns, das Krankheitsgeschehen und die vielen Erschütterungen, die unsere Familie, unsere Freundschaften und unsere Lebensgewohnheiten so grundlegend veränderten, zu bewältigen. So entstand ein handwerklich furchtbares „Werk“. Wir haben auch vor fremden Menschen aus diesem Buch gelesen,aber es war so, wie die Autorin hier schon schildert, eine öffentliche Bloßstellung.
    Andererseits gab es viele Menschen, die dieses Büchlein, 147 Seiten sind kein großes Buch, ganz gerne gelesen haben, denn überall in Deutschland, ja ich möchte behaupten auf der ganzen Welt, gibt es Menschen, die mit Hilfe der geschilderten Erlebnisse anderer Menschen, ihre eigenen Erlebnisse „entemotionalisieren“ können, ihre eigenen Erlebnisse besser einordnen und damit besser bewältigen können.
    Für uns jedoch gilt nun das, was Ulrike Renk hier klar formuliert hat, unsere Lebensgeschichte kommt in die Schublade.
    Warum?
    Weil das Buch schreiben für einen Verlag, ich sag mal das kommerzielle Schreiben sich Weltenweit vom Aufschreiben der realen Erlebnisse unterscheidet.
    Kommerzielles Schreiben fordert das Wissen, die gründliche Recherche und die Kreativität das Wissen so umzusetzen, dass möglichst viele Menschen am Erzeugnis, dem Buch interessiert sind. Kommerzielles Schreiben erfordert auf ein bestimmtes Ergebnis zielgerichtet zu schreiben.
    Lebensberichte erfordern allerhöchstens ein paar Grundkenntnisse der Grammatik und vielleicht auch noch die Fähigkeit, die Ereignisse im erlebten Zeitablauf zu schildern bzw. in die Tastatur zu klappern.

Schreibe einen Kommentar