Truth is stranger than fiction

Eine Geistergeschichte – oder was in der Art

Sie wissen ja, ich fahre gern und viel mit den Öffentlichen und bis heute hielt ich mich auch für einen ziemlich abgebrühten S-Bahnfahrer: Ich habe erlebt, wie ein Franzose via Handy erst der einen ewige Amour und Fidélité schwor, nur um dann direkt im Anschluss eine andere Chérie zu nennen, neben mir haben Wasenbesucher ihren Magen- und Obdachlose ihren Darminhalt verloren,  einmal habe ich der Nordmanntanne eines Mitfahrers meinen Sitzplatz überlassen, weil er sie mit Namen ansprach und mir erklärte, sie habe müde Beine, ein andermal … ach, egal, was ich sagen möchte: Ich dachte, mich überrascht nichts mehr.

Aber heute hat es mich doch erwischt, mir saß nämlich ein junger Mann gegenüber.

Er sah mich an.

Das kommt, für sich genommen, öfter vor und ich muss gestehen, wenn es ein hübsches Exemplar ist, dann gebe ich mitunter meinen stieren Bahnblick auf und wenn es das so ein Exemplar mit blondem Strubbelkopf ist, dann kriegt es vielleicht sogar ein Lächeln, allerdings nur ein halbes, die hübschesten Locken zwischen Feuersee und Gaskessel habe ich nämlich schon geheiratet. Dieses Exemplar war jedoch weder blond noch lockig noch besonders hübsch, außerdem habe ich gerade Daniil Charms gelesen und bei dem tu ich mich immer sehr schwer, weil ich nicht weiß, versteh ich ihn nicht, weil er nicht verstanden werden kann oder bin ich einfach zu dumm – jedenfalls muss ich mich drauf konzentrieren, sonst wird das nichts mit mir und Herrn Charms.

Der junge Mann starrte weiter.

Kennen Sie dieses Gefühl, wenn Sie jemand unentwegt anstarrt?

Das ist ziemlich unangenehm.

Das ist sogar ziemlich beängstigend,  besonders, wenn es sich bei diesem Jemand um einen breit gebauten Mann handelt und Sie eine Frau sind. Eine Frau, die auf dem Heimweg 200 Meter einen unbeleuchteten Bahndamm entlang muss und deren Affinität zu Kampfsport sich bisher auf die Taekwondo Wettkämpfe ihres Bruders beschränkt hat. Ich bin eigentlich von grenzenlosen Gottvertrauen, mir passiert nie was.

Haben Sie sich schon mal überlegt, wie vielen Vergewaltigungsverstümmelungspsychopathenopfern vorher „nie was passiert“ ist?

Der Mann starrte.

Vielleicht war er einfach blind und ich hatte vor lauter Daniil Charms nur nicht gemerkt, wie er sich mit seinem Stöckchen den Platz ertaste?

Ich wagte einen Blick, der wurde erwidert. Ein Lächeln gab’s gratis zu.

Eindeutig nicht blind, allerdings kam mir das Lächeln etwas irr vor.

Im Zweifelsfall einfach aussteigen und auf die nächste S-Bahn warten.

Kennen Sie diese Geschichte von Ruth Rendell, wo die Frau vor dem Vergewaltiger wegrennt und am Ende zu dem geisteskranken Mörder ins Auto steigt? Ich würde sie lieber nicht kennen!

„Du erinnerst dich nicht? Du erkennst mich wirklich nicht wieder.“

Das kam von dem  jungen Mann und ich war sehr erleichtert. Mein Personengedächtnis ist eine Katastrophe … Deshalb starrte der so – bestimmt ein Kommilitone, oder vielleicht sogar ein ehemaliger Klassenkamerad? Der längst vergessener Ex irgendeiner Freundin?

Ich schüttelte den Kopf, versuchte es mit einem: „Sorry, ne? Gibst mir nen Tipp?“

Den hatte ich bestimmt noch nie gesehen!

Aber vielleicht hatte der auch nur neue Haare oder seit damals 30 Kilo abgenommen, war ja alles möglich?

„Wir waren zusammen in Verona.“

Ha! Da lag der Hase im Pfeffer. Der verwechselte mich!

„Sorry, ich war noch nie in Verona.“ Ich war plötzlich ziemlich stolz darauf, Verona nicht zu kennen und erklärte deshalb fest: „In meinem ganzen Leben bin ich nicht in Verona gewesen!“

Und aus meergrünen Augen sah der mich an und sagte: „Das war auch nicht in diesem Leben. Das war 1925.“

Ihre Joan Weng

 

P.S.: An der Tatsache, dass ich diese Geschichte hier erzähle, sehen Sie ja schon, dass ich’s überlebt hab. Mir passiert nämlich nie was!

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