„Entschuldigen Sie? Können Sie lesen?“

Offensichtlich ja! Das ist schön, denn das qualifiziert Sie zum Testleser eines (zukünftigen) Bestsellers!

Im Leben eines jeden Autors kommt nämlich der Moment, wo er den Punkt hinter sein persönliches Äquivalent zu: „ …dann leben sie noch heute“, setzt und dann, dann wird es unerfreulich, denn dann kommen die Testleser ins Spiel. Der Testleser als solches ist potentiell bösartig und begriffsstutzig, unwillig, die subtilen Botschaften des Autors richtig zu deuten und leider haben Testleser mit ihren Urteilen meistens recht.

Neben diesen Gattungsmerkmalen, die allen Testlesern (lat. Lector experientiae vulgaris) gemein ist, gibt es verschiedene Untertypen, von denen wir heute drei vorstellen wollen:

1)      Der Flüchtige (lat. Lector experientiae concitatus):

Der  Lector experientiae concitatus ist ein Segen für jeden Autor, denn er liest, wie später die Mehrheit der Käufer lesen wird: Schnell morgens in der Bahn, neben der 5-Minuten Terrine in der Mittagspause, abends drei Seiten im Bett. Die Fragen zum Text bekommt der Autor dann gern nur so annäherungsweise oder auch mal doppelt beantwortet, aber das ist unwichtig.

Kriegt man den Lector experientiae concitatus zur vollständigen Lektüre des Romans, weiß man, der Text muss wirklich spannend sein (oder der Lector experientiae concitatus  mag einen sehr, was ja auch schön ist!)

2)      Der Freundliche (Lector experientiae benevolus):

Der Lector experientiae benevolus  ist im Alltag gewöhnlich ein guter Freund, gern auch die Mama des Autors und der Lector experientiae benevolus ist brandgefährlich, denn er findet grundsätzlich alles toll: Fallengelassene Handlungsstränge nennt er originelle literarische Ansätze, langweilige Passagen lobt er, ob ihrer Wortgewalt und sollte es gar zu unverständlich zugehen, dann bestimmt er, der Roman sei einfach zum Mehrfachlesen geschaffen.

Man meide den Lector experientiae benevolus, wo man ihn findet!

Erst wenn das das Manuskript endgültig von allen Verlagen abgelehnt wurde, darf man ihm den Text zeigen und dann, dann darf man mit ihm darüber schimpfen, dass solch ein Meisterwerk, solch subtile Schönheit vollkommen verkannt wird.

3)      Der besonders Schlaue (Lector experientiae prudens):

Der Lector experientiae prudens zeichnet sich dadurch aus, dass er meistens gleichfalls schreibt oder zumindest beruflich etwas mit Büchern zu tun hat oder gerne hätte – im Zivilenleben tarnt er sich häufig als Steuerberater.

Er ist sehr engagiert und liest mit zackiger Disziplin seine täglichen 30 Seiten, Fragen zum Text beantwortet er gezielt und akkurat.

Glücklich ist, wer einen Lector experientiae prudens unter seinen Testlesern weiß.

Vorsicht ist jedoch geboten, wenn der Lector experientiae prudens einen mit wohlmeinenden Ratschlägen unterstützen will, denn die lauten dann gerne: „Streu doch mehr Adjektive ein“ oder „Ich kann mir nie merken, wer das ist! Warum setzt du da nicht eine kleine Erklärung hinter den Namen?“

Gerne, das sieht dann ungefähr so aus: Freddie, der der schmierige  Kleinkriminelle aus Kapitel vier ist und sich schon da verdächtig verhielt, indem er die streng geheimen Unterlagen durchwühlte, die der sympathische, bildschöne Protagonist in Kapitel drei versteckte, sagt leise zu der süßen Julia, die die hübsche Sekretärin des markigen Kommissars ist, die gerne heißen Kaffee kocht und an unserem gutaussehenden Kommissar mehr als nur berufliches Interesse hat: „Guten Morgen, Fräulein Julia.“

 

In diesem Sinne: Danke an all meine unermüdlichen Testleser!

Ihre Joan Weng

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2 Gedanken zu „„Entschuldigen Sie? Können Sie lesen?““

  1. Der Unfreundliche
    Kennzeichnet sich vor allem dadurch aus, das seine beißende Kritik mit Formulierungen wie „Was soll das?“ oder „Wer schreibt heute noch wie …“ gespickt ist. Es gibt für ihn keine guten Texte mehr, aus von seinem Lieblingsschriftsteller und seine eigenen (die aber niemand kennt). Er kommt immer zu dem Schluss, es besser bleiben zu lassen oder noch mal ganz von vorne zu beginnen.

  2. Ich hätte da noch einen, bin aber des Lateins nicht mächtig:
    Der Schläfer
    ist gekennzeichnet, durchaus wohlwollend sein Ohr und ein Stück seines textverabeitenden Hirns zu verleihen, so man ihm vorliest.
    Meist geschieht das für den Testhörer NACH seiner Arbeitszeit. Das schränkt das Aufnahmevolumen schon im Vorfeld etwas ein. Von daher ist es eine gute Ausbeute, wenn der Schläfer ca drei A4 Seiten bei vollstem Bewusstsein erlebt. Anderthalb gehen dann ggf noch ins Unterbewusstsein über und haben die Chance durch Träume reflektiert zu werden. Deshalb ist es von Vorteil morgens(und sei es noch so früh) m i t dem Testhörer aufzustehen und ihm beim Frühstück die frischesten Eindrücke (verbal) zu entlocken. Wie gesagt: Eindrücke. Auf dieser rudimentären und ursprünglichsten Ebene jedoch, erfahren wir als Autoren, was sich wirklich festsetzt…

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