Vorwärts, Balto, oder wie mich ein Jugendbuch beeinflusst hat

Ich komme aus einer Akademikerfamilie, war „gestraft“ damit, dass beide Elternteile Lehrer waren. Deshalb standen Bücher und Literatur bei uns zu Hause ziemlich im Fokus. Schon von klein auf haben meine Eltern meinem Bruder und mir vorgelesen. Ein wichtiges Ritual, dass ich auch bei meinen eigenen Kindern lange praktiziert habe.

Die Stiftung Lesen hat im Oktober 2014 einen neuen Bericht herausgebracht. Darin steht:

„Jedem dritten Kind in Deutschland wird zuhause nicht vorgelesen, damit fehlt ein zentraler und wichtiger Impuls für positive Entwicklungen, die im Zusammenhang mit dem Vorlesen nachweisbar sind.“

Mein Bruder und ich liebten „Puh, der Bär“. Mein Vater hat es uns mehrfach vorgelesen, war es aber irgendwann leid, zumal wir das Buch quasi mitsprechen konnten. Wir wollten es aber wieder und wieder hören. Also hat er es sich erst auf Latein und dann auf Altgriechisch besorgt. „Winnie ille Puh“ ist vermutlich der Grund, weshalb ich mein Latinum bestanden habe.

Irgendwann, recht früh, konnte ich aber selbst lesen. Die meisten meiner geliebten Kinderbücher sind Mainstream und immer noch erhältlich. Alles von Astrid Lindgren (und ich habe es geliebt, meinen Kindern Jahre später aus den alten Büchern vorzulesen), Enid Blyton, Selma Lagerlöf und die Mumins von Tove Jansson. Von Karl May hatten wir alle Bücher, manche sogar in verschiedenen Ausgaben. Ich habe Winnetou geliebt, lange bevor Pierre Brice auf der Mattscheibe starb. Jack London und Mark Twain habe ich auch gerne gelesen.

Irgendwie, stelle ich gerade fest, hatte und habe ich eine große Affinität zu nordischen Abenteuergeschichten. Vielleicht hat mir deshalb jemand, ich weiß nicht mehr wer und wann es war, das Buch „Vorwärts, Balto“ von Kurt Lütgen geschenkt.

Kurt Lütgen war ein Jugendbuchautor und leider sind die meisten seiner Werke heute vergessen. Er wurde 1911 in Pommern geboren und starb 1992 in Bad Salzuflen. Geschrieben hat er über vierzig Bücher. 1972 bekam er den Friederich Gerstärcker Preis für sein Gesamtwerk, 1977 das Bundesverdienstkreuz und auch noch so einige andere Preise mehr.

Im Lexikon westfälischer Autoren steht über ihn: Eine indirekte Annäherung an die deutsche Vergangenheit und die Jahre nach 1933 versuchten Autoren wie Herbert Kranz, Kurt Lütgen oder Hans Baumann, die gegen die Siegfried-Gestalten des Nationalsozialismus eine andere Idee von Abenteuer setzen wollten, die sie als Abenteuer des Menschlichen faßten. Der Blick „von unten“ diente ihnen zur Destruktion „großer Gestalten der Geschichte“. Ihr Anliegen war Charakterbildung durch Literatur. Sie befleißigten sich dabei im Unterschied zu den Autoren der Mädchenliteratur und der märchenhaften Erzählung eines neutralisierenden, fast sachlichen Tons.*

„Vorwärts, Balto“ ist eine Sammlung von Kurzgeschichten und heute leider vergriffen. Man bekommt es manchmal noch antiquarisch. Die Kurzgeschichten schildern laut Autor Begebenheiten, die er in Alaska erlebt hat oder ihm von Schlittenhundführern erzählt wurden – ob das so stimmt, weiß ich nicht.

Die Titelgeschichte seines Buches „Vorwärts, Balto“ ist allerdings tatsächlich eine wahre und sehr berührende Geschichte. 1925 brach in dem Dorf Nome, im Westen von Alaska, die Diphtherie aus. Die Bewohner waren hauptsächlich indogener Abstammung und hatten somit keine Antikörper – die Krankheit war für sie tödlich. Es gab zwar ein Serum, das die Krankheit aufhalten konnte, allerdings nur in Anchorage, fast 1000 Meilen entfernt. Ein schwerer Schneesturm wütete zu der Zeit, so dass keine Flugzeuge nach Nome gelangen konnten. Es gab keine regulären Straßen, der Postweg wurde normalerweise durch Schlittenhundstaffeln versorgt, aber auch für die Musher und ihre Gespanne war es kaum möglich, dorthin zu kommen. Dennoch beschlossen die Musher der Postlinie eine Staffel zu bilden, um das Serum nach Nome zu bringen. Der Schneesturm nahm zu, aber die Männer und ihre Hunde verzagten nicht und nahmen den Wettkampf gegen Zeit und Wetter auf.

Der vorletzte Musher verpasste den Treffpunkt – der Blizzard hatte zugenommen und so beschloss er, einfach die doppelte Strecke mit seinem Gespann zu fahren. Er wurde schneeblind, sah nichts mehr – allein sein Leithund, Balto, konnte das Gespann noch retten. Mit dem Ruf „Vorwärts, Balto!“ trieb der Musher ihn an und Balto lief. Er führte das Gespann ohne menschliche Hilfe nach Nome. Das Serum rettete vielen Menschen das Leben, über die Schlittenhundstaffel wurde per Telegraf berichtet, die ganze Welt verfolgte den Wettlauf gegen Krankheit und Wetter.

Balto wurde eine Berühmtheit – seine Bronzestatue steht im Central Park in New York. Die Geschichte wurde auch verfilmt (ein ganz grauenvoller Zeichentrickfilm).

Eine klitzekleine Kleinigkeit wurde bei der Verfilmung und allen weiteren Berichten verfälscht: Balto war kein Sibirien Husky, sondern ein Alaska Malamute. Der Hund, der berühmt wurde, war ein Husky – er sah einfach besser aus als der wahre Balto und war gerade in Griffweite, als die Reporter kamen (mit dem Flugzeug, als das Wetter sich beruhigt hatte). Ein Alaska Malamute hat die letzte Staffel des Rennens bestritten, er hat nicht aufgegeben, auch als sein Musher schneeblind über dem Schlitten hing.

Okay – ich werde hier sehr emotional.

Ich hatte schon eine Husky Hündin und habe jetzt einen Malamuten. Ich hoffe, er lebt noch gaaaaanz lange.

Ganz sicher bin ich mir aber, dass das Buch von Kurt Lütgen einen maßgeblichen Einfluss auf die Wahl meiner Hunde, meiner Liebe zu nordischen Rassen, zu Wölfen und meiner Affinität zu Abenteuergeschichten hatte.

Ich fände es sehr schade, wenn dieser Autor vergessen würde. Und nicht nur „Vorwärts, Balto“ ist lesenwert (aber den Trickfilm NICHT schauen – nie nimmer nicht – der ist gruselig schlecht!).

Ihre Ulrike Renk

*K. Doderer (Hg.): Jugendliteratur zwischen Trümmern und Wohlstand 1945-1960. Weinheim, Basel 1993, S. 11

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