„Schreiben heißt, Menschen, die man nicht kennt, etwas zu erzählen.“

Tom Liehr

Interview mit Tom Liehr. Notorisch neugierig: Claudia Kociucki

Tach, Tom! Vielen Dank, dass du dich bereit erklärt hast, dich von mir aufs Kreuz legen … also, äh … hinters Licht führen … ne, Moment … *Notizen durchblätter* … ah, hier: interviewen zu lassen. Wir fangen kurz und knapp mit einer Schnellfragerunde an! Kieken wa ma, wa?

1. QUICKSTEP

Du bist Berliner. Deine Lieblingsstadt? Ja, Berlin, vor allem das wiedervereinte mit dem ganzen Grün drumrum. Hamburg mag ich auch sehr. Geheimtipp: Crimmitschau. Klingt komisch, rockt aber total.

Du schreibst Romane. Dein Lieblingsliehr? Immer der aktuelle. Auf ewig besonders bleibt das Debüt. Aber ich liebe „Sommerhit“, ich hänge sehr an „Geisterfahrer“, mir gefällt, was ich in „Leichtmatrosen“ geschafft habe, und ich lache gelegentlich noch über Szenen aus „Pauschaltourist“. Eigentlich sind sie alle meine Lieblinge. Natürlich. Nur einen Roman zum Film werde ich nie wieder schreiben. Versprochen.

Du bist Schriftsteller. Deine Lieblingsautorentätigkeit? Belegexemplare auspacken.

Du erfindest Figuren. Dein Lieblingsprotagonist? Tatsächlich Uwe Fiedler, der Held im kommenden Roman „Nachttankstelle“. In dem steckt wirklich eine Menge.

Du warst DJ. Deine Lieblingsplatte? Die, die mir am meisten bedeutet, wird wohl „Running On Empty“ von Jackson Browne sein und bleiben. Die, die ich am liebsten höre, ist „Neon Bible“ von Arcade Fire.

 

2. MAGISCHE ZAHLEN

‚Auf ein Wort!‘ Beschreibe deine Bücher mit einem einzigen Adjektiv! Kühn?

‚Doppelt hält besser.‘ Welche zwei Seelen wohnen, ach, in deiner Brust? Emoanarchist und Ratiokonservativer.

‚Literarischer Dreisprung‘: Einleitung > Hauptteil > Schluss. Welche drei Dinge braucht ein gutes Buch deiner Meinung nach sonst noch? Gute, nachvollziehbare Figuren (vor allem auch, sehr wichtig!, Nebenfiguren), überraschende Details, ein originelles Setting. (Außerdem: lebensechte Dialoge, Identifikationsmöglichkeiten, Liebe und, ja, Sex in passender Dosierung, ein Thema (!) – und eine Stellungnahme dazu.)

‚7 auf einen Streich‘: Welche sieben Sachen sollte ein Autor heutzutage können? Erzählen, erzählen, erzählen, erzählen, erzählen, erzählen – und sich medial präsentieren. Die ersten sechs sind sehr viel wichtiger als das siebte; Autoren erreichen Leser mit gut erzählten Geschichten – und mit nichts sonst. Marketing & Co. entfachen Strohfeuer.

‚Die wilde 13‘: Mit dem Schreiben hast du im Alter von 13 angefangen; wie lange soll das denn weitergehen, was hast du noch vor? So viele Romane schreiben, wie sich machen lässt. Irgendwann mal auf der Long-, gar der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stehen. Aber über derlei mache ich mir prinzipiell wenige Gedanken; Schriftsteller gehen nie in Rente, weshalb das auch nicht geplant ist. So lange es Nachfrage gibt und ich Ideen für Geschichten habe, werde ich schreiben.

‚42 – die Antwort auf alle Fragen.‘ Du bist eines der Gründungsmitglieder der 42erAutoren: Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht? Um ehrlich zu sein: nicht viel. Wir wollten damals eine Anthologie herausgeben („Das Erste – Jahrbuch der 42erAutoren“ per BoD, 1999) und haben, damit sich das besser organisieren ließ, aus der lockeren Gruppe einen Verein gemacht. Bei Staatsgründungen hat man noch nicht sofort die Weltherrschaft im Auge; das kommt dann später. So war es bei den 42ern auch.

 

3. FREUD UND LEID

Auf deiner Internetseite steht, du habest hunderte Leserbriefe bekommen und die meisten beantwortet. Was muss drinstehen, damit du sie nicht beantwortest?

Eigentlich muss nur mein Name richtig geschrieben sein. Ich beantworte auch hasstriefende Traktate, die es tatsächlich hin und wieder gibt. Lieber sind mir natürlich Briefe wie der, den ich kürzlich aus Magdeburg bekommen habe, von einem Mann, der eigentlich nie Bücher liest, sich aber im Urlaub so gelangweilt hat, dass er doch in eine Buchhandlung marschiert ist, wo ihm „Leichtmatrosen“ empfohlen wurde. Er hat dann zwei Urlaubstage verpasst, weil er unbedingt weiterlesen musste. Und mir anschließend einen hinreißenden Brief geschrieben.

Was war das Skurrilste, das ein Fan dir geschrieben oder geschenkt hat?

Das war im Jahr 2008, im November oder Dezember. Ein Mann aus NRW (Hamm oder so) schrieb mir, er hätte soeben „Geisterfahrer“ beendet, die Geschichte über einen Typen namens Tim Köhrey, der nach achtzehn Jahren erkennt, dass sein Leben falsch ist. Der Westfale erklärte mir schriftlich, dass ihm der Roman die Augen geöffnet hätte, weshalb er nun stantepede seinen Job kündigen, die Familie verlassen und wieder in die Stadt seiner Jugend ziehen wolle. Wir haben noch zwei, drei Mails ausgetauscht, in denen ich ihm zu erklären versucht habe, dass ein Roman Fiktion ist, aber ich glaube, der hat das damals wirklich gemacht (ich müsste die Mailadresse herauskramen und nachfragen). Ein weiblicher Fan hat mir mal ein anzügliches Foto geschickt, im parfümierten Umschlag, ganz klassisch. Ich habe nach der Frau gegoogelt, das Foto war echt. Ich habe ein Hochzeitsfoto zurückgeschickt, ohne Kommentar.

Jemand hat sich von dir ein Buch ausgeliehen und gibt es mit Eselsohren und Marmeladenflecken zurück. Was passiert?

Ich verleihe Bücher nicht. Ohne Ausnahme.

Ein Verlag sagt: „Das bringen wir nur als E-Book heraus, Herr Liehr.“ Und du dann so?

Och, lieber Verlag, dann lassen wir das wohl lieber, gell? Ab in die Tonne mit dem Manuskript und ein neues verfasst.

 

4. ENT ODER WEDER

Hörbuch oder Verfilmung? Verfilmung.

Globetrotter oder Nesthocker? Globaler Nesthocker. Ich mag das Reisen nicht so gerne, aber ich mag es gerne, woanders zu sein.

Fußball spielen oder kucken? Notfalls: spielen. Ich finde Fußball doof.

Kaffee oder Tee? Ganz klar Kaffee. Tee ist Medizin.

Berge oder Bahamas? Hängt von der Jahreszeit ab. Unter uns: Die Bahamas sind ein bisschen langweilig.

Früher Vogel oder Nachteule? Früher zweiteres, heute beides.

 

5. SCHREIBEN UND ANDERE SCHERZE

Agatha Christie soll gesagt haben: „Meine schriftstellerische Tätigkeit als Beruf aufzufassen, wäre mir lächerlich erschienen.“ Du hattest – hast – mehrere Berufe bisher. Wie siehst du das für dich persönlich?

Es ist tatsächlich nicht leicht, etwas, das so viel Spaß macht, als „ernsten“ Beruf aufzufassen. Aber genau das muss man unbedingt tun, wenn man erfolgreich werden, sein und bleiben will. Schön ist, dass sich die Phasen abwechseln – es gibt Zeiten, in denen man sich ganz und gar der Kreativität widmen und sich austoben kann, und andere, in denen man sich total professionell geben muss. Aber man ist nie ein klassischer Angestellter, sondern jemand, mit dessen Output andere arbeiten (müssen): die Agentur, die Leute im Verlag, die Buchhändler, Presse usw. Dieses besondere Glück, das schwer zu begreifen ist, haben fast nur Künstler. Es scheint mir nachvollziehbar zu sein, wenn man dafür keinen so profanen Terminus verwenden will.

Ich zitiere: „Schriftsteller sein heißt: Erzählen wollen.“ Worüber sollte unbedingt mal jemand schreiben?

Ein Interview als verdeckter Ideenklau? Netter Versuch, Frau Kociucki. J

Du hast – so auf der 42er Homepage zu lesen – u. a. zwei Literaturpreise abgeräumt: Einmal bei einem Playboy-, einmal bei einem Caritas-Literaturwettbewerb. Nun ja … äh … wie sag‘ ich’s? Ist das eine Dokumentation deiner Bandbreite?

Um ehrlich zu sein: Ich habe Angst vor Wettbewerben, weil ich Niederlagen als Testate meiner Unfähigkeit verstehen würde (und irgendwann wird irgendwer kommen und mir beweisen, dass ich eigentlich nicht schreiben kann). Deshalb nehme ich sehr, sehr selten an so etwas teil – beide Bewerbe waren eher Zufälle. Damals, in den Neunzigern, habe ich mich schrecklich gelangweilt und hatte viel Zeit (und noch nichts zu verlieren). Und am Caritas-Wettbewerb habe ich aus einer Laune heraus mit einer Geschichte teilgenommen, die ich nicht für diesen Bewerb geschrieben hatte. Als der Anruf kam, hatte ich die Teilnahme schon wieder vergessen. Aber, um die Frage zu beantworten: Jein. Thematisch durchaus, stilistisch ist da noch eine Menge Luft nach oben. Siehe Antwort auf die Frage, wie lange ich das noch machen will. 😉

Gibt es Themen, die in deinen Texten immer wiederkehren?

Neben Musik, Liebe und Freundschaft? Ja. Nämlich die Frage danach, was man aus seinem Leben machen sollte. Und dass man das immer wieder hinterfragen sollte. Man hat nur eines davon.

 

6. WAS KÜMMERT UNS HEUTE UNSER GESTRIGES GESCHWÄTZ VON MORGEN?

Gibt es alte Werke aus deiner Feder, für die du dich im Nachhinein schreibhandwerklich schämst? (Natürlich besorgen wir uns gleich morgen sofort diese Texte.)

Logisch. Wer das nicht hat, ist ein Narr oder ein Genie. Auf der anderen Seite glaube ich, dass ich immer für das, was ich zum jeweiligen Zeitpunkt erzählen wollte, die richtigen Worte gefunden habe – nur das, was ich eben erzählen wollte, war irgendwie falsch (etwa in „Die Hand Gottes“, eine Rache-Kurzgeschichte, die auch mal Besprechungstext bei den 42ern war – allerdings noch zu Mailinglisten-Zeiten, also nicht archiviert, hähä). Tatsächlich peinlich ist mir immer noch das zweite Romanmanuskript, das ich geschrieben habe, mit sechzehn, siebzehn: „Letzte Bestandsaufnahme“ (eine ganz wirre, verkopfte Liebesleidgeschichte). Davon gibt es keine Kopie, nirgendwo, sondern nur das Original – 400 Seiten, mit der Schreibmaschine getippt. Du müsstest in meinen Keller einbrechen, um da ranzukommen.

Einer deiner Romane ist ins Französische übersetzt worden. In welcher Sprache möchtest du noch einen deiner Romane sehen?

Ich habe viele Freunde in den U.S. of A., und würde mich freuen, wenn die endlich mal ein Buch von mir lesen könnten. Aber eine Übersetzung ist in erster Linie ein Verkaufserfolgmarker, also eine schöne Sache, aber schriftstellerisch nicht direkt von Bedeutung. Chinesisch (Mandarin? Apfelsin?) wäre tatsächlich geil, weil in China eine Menge Leute wohnen, wie ich bei Wikipedia herausgefunden habe. 😉 (Sorry für den blöden Kalauer, aber das ist eine Frage, über die ich mir wirklich noch nie Gedanken gemacht habe. Es kommt, wie’s kommt.)

Deine erste Veröffentlichung in der 7. Schulklasse war eine Wandzeitung mit dem Titel “Rauhfaser quer”. Wann können wir der Fortsetzung der Trilogie rechnen: „Rigips gedübelt“ und „Flipchart hochkant“? Was wirst du uns als nächstes schreiben, Tom?

Ich schraube derzeit an drei Entwürfen, die alle nichts mit dem Handwerkern zu tun haben. In den nächsten Wochen wird sich – in Zusammenarbeit mit der Agentur – klären, was davon der nächste Liehr wird, vorausgesetzt, es gibt verlagsseitig Interesse. Aber: Die Romane werden niemals so, wie sie in den Exposés beschrieben werden, weshalb alles, was ich hier antworten könnte, irgendwann gegen mich verwendet werden könnte. Es gibt die Idee, einen weiteren Roman über Uwe Fiedler zu schreiben, Arbeitstitel „Therapiestunde“. Ich habe einen sehr hübschen Plot skizziert, in dem es um ein echtes Großstadtarschloch geht, das von seiner Frau in die Provinz gezerrt wird. Und dann ist da noch diese hinreißende Liebesgeschichte über ein Paar, das sich nach zwanzig Jahren ‚im Guten‘ trennt, um zu erkennen, dass Liebe und Liebe nicht immer das gleiche ist. Schwierige Frage. Deshalb keine (leichte) Antwort.

 

7. MASTERFRAGE

Sind deine Texte autobiographisch?

Tom? *Wo isser denn?* … Tom? … To-hooooooooooom!

Tja. In diesem Sinne. Ich bin dann getz auch mal wech. Autobiographisches Material anhäufen. Bis bald, Ihre und eure

Claudia Kociucki

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Ein Gedanke zu „„Schreiben heißt, Menschen, die man nicht kennt, etwas zu erzählen.““

  1. Die Interviews hier im Blog sind mir meistens viel zu lang. Dieses auch, aber hier macht´s nichts, weil

    1. die Fragen gut sind,
    2. das Interviewkonzept stimmt und
    3. Tom eben Tom-mäßig antwortet.

    Ein echtes Vergnügen! Danke euch beiden!

    Didi

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