Wegen Bansin

Es war ein windiger Tag, der Himmel zugehangen mit dicken, eindrucksvollen Wolkenballen, die immerhin ab und an mal ein wenig die Sonne vorgucken ließen. Gerade dieser Tag schien wie ausgesucht dafür, jemandem einen Besuch abzustatten. Also fuhren wir nach Bansin.

 

HWR_Bansin

 

Der Friedhof liegt günstig vor der Stadt. Ich ging zügig los, das Grab zu suchen. Es war bald gefunden, weil der Friedhof nicht allzu groß und dazu noch übersichtlich ist, trotz der Hecken. Nahe bei der Kapelle – hatte man mir gesagt und so war ich schnell an Ort und Stelle. Ich machte ein Foto vom Grab, drehte den Film um ein Bild weiter und war gerade bereit für das nächste Foto, als ich angesprochen wurde.

»So eine hatte ich auch mal.«

Der Mann stand direkt neben dem Grab, ich hatte ihn nicht bemerkt. Oder er war hinzugetreten, als ich mit dem Fotografieren beschäftigt war.

»Neunzehnhundertundfünfziger Jahre«, sagte ich. »Agfa Silette. Nicht die ultimative Kamera, selbst zur damaligen Zeit nicht, und trotzdem gut. Funktioniert noch heute nach 60 Jahren einwandfrei.«

Er nickte.

»Dürfen Sie denn hier fotografieren?«

Die Frage überraschte mich.

»Wen soll ich denn fragen? Die Friedhofsverwaltung?«

»Die Inhaber der Gräber.«

Ich lachte. »Da kann ich ja lange auf eine Antwort warten. Und überhaupt … was sollten die dagegen haben.«

»So ist das«, grummelte er. »Kaum ist man tot, wird man nicht mehr für voll genommen und noch nicht einmal gefragt, ob das eigene Grab fotografiert werden darf.«

Nun war ich bestürzt, sah mir den Mann genauer an. Groß, breite Schultern, das Gesicht ein wenig spitz zum Kinn hin zulaufend, das Haar trotz des Alters nur in den Ecken gelichtet. Große Hände. Große Ohren. Meine wurden rot.

 

HWR_Grab

 

»Verzeihen Sie, Herr Richter. Ich habe sie nicht gleich erkannt. Haben Sie etwas dagegen, dass ich Ihr Grab fotografiere?«

Er winkte ab.

»Schon gut, junger Mann. Allein dafür, dass mich heute überhaupt noch jemand kennt …«

»Aber nein – vergessen sind Sie nicht.«

»Ach was, als Anführer und Oberdiskutierer der Gruppe 47,  ja, da werde ich noch ab und zu erwähnt. Aber sonst? Wer liest sonst noch meine Bücher?«

»Ich«, wagte ich schüchtern einzuwenden. »Und ich habe schon mal ein Buch von ihnen verschenkt – Spuren im Sand – und weiß, dass es gelesen wurde.«

Er lachte.

»Immerhin, dann gibt es also noch zwei Menschen, die mich lesen. Was will man mehr. Morgen wird es nur noch einer sein. Und dann?«

»Es wachsen neue Leser nach.«

»Meine Bücher sind jetzt schon vergriffen.«

»Nicht ganz. Im Wagenbach Verlag gibt es noch ›Die Stunde der falschen Triumphe‹, die »Geschichten aus Bansin«, bei Hirnstorff die ›Spuren im Sand‹, bei Beck ›Die Tagebücher‹ …«

»So eine Unverschämtheit«, wetterte er los. »Die waren doch nie zur Veröffentlichung bestimmt? Wie stehe ich denn jetzt da?«

»Nicht anders als vorher«, wagte ich einzuwenden.

»Aber all diese Bemerkungen über Kollegen … die hätte ich doch nie öffentlich gemacht … es ist doch anders, was man privatim denkt! Oder nicht?«

»Ein bisschen schon. Trotzdem …«

»Kein Trotzdem. Was die Öffentlichkeit über meine Meinung zu den Kollegen wissen darf, habe ich in meinem Buch ›Im Etablissement der Schmetterlinge‹ niedergelegt. Das reicht. Das ist überlegt. Das ist …«

»Vergriffen. Leider. Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen, Herr Richter. Ihrem Ansehen hat die Veröffentlichung ihrer Tagebücher nicht geschadet.«

»Meinen Sie?«

»Bestimmt nicht.«

Er nickte und wandte sich um.

»Herr Richter … bevor Sie gehen … könnten Sie Ihre Frau …«

Er drehte sich noch einmal um.

»Toni? Was ist mit ihr?«

»Ob sie auch damit einverstanden ist, dass ich das Grab fotografiert habe.«

Jetzt lächelte er.

»Bestimmt. Es wird sie sogar freuen.«

»Dann richten Sie Ihr einen Gruß aus.«

Ich bückte mich, um noch ein Foto zu machen. Als ich wieder aufstand, war er verschwunden. Ich verließen den Friedhof und suchte das Hans Werner Richter Haus, fand es und bewunderte, was alles zusammen getragen wurde. Auch das Arbeitszimmer mit dem schönen (und vor allem aufgeräumten) Schreibtisch, der Schreibmaschine und der wuchtigen Stehlampe. Zahlreiche Fotos hingen an den Wänden, Radierungen von Günter Grass mit der Geschichte dazu.

HWR_HausHWR_Zimmer

Der Besuch lohnt sich auf jeden Fall. Wegen Hans Werner Richter. Wegen Bansin. Wegen Usedom. Wegen …

Bis zum nächsten Spaziergang

Ihr Horst-Dieter Radke

 

Hans Werner Richter

Mittendrin: Die Tagebücher 1966-1972

Die Stunde der falschen Triumphe

Spuren im Sand

Deutschland deine Pommern

Geschichten aus Bansin

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