Reisen in das Herz des Fremden

Ich war am Wochenende mal wieder in Afrika. Leider musste ich diesmal wieder eine Reise auf dem Papier unternehmen, für mehr fehlen mir im Moment Zeit und Geld. Außerdem rät das Auswärtige Amt dringend von allen nicht notwendigen Reisen in den Kongo ab. Ich bezweifle, dass das Kennenlernen von Land und Leuten unter „notwendige Reisen“ fällt. Deshalb bin ich froh, dass Lieve Joris mehrfach in den Kongo gereist ist und davon so fesselnd erzählt, dass ich nicht aufhören konnte, ehe ich die Bücher über ihre ersten beiden Reisen dorthin, „Das schwarze Herz Afrikas“ und „Der Tanz des Leoparden“  , ausgelesen hatte.

Das erste Mal reiste die Belgierin Lieve Joris in den 1980er Jahren in den Kongo, der damals Zaire hieß, was es der Afrikanisierungskampagne des damaligen Präsidenten Mobuto zu verdanken hatte. Joris begab sich auf die Spuren ihres Onkels, der in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts als Missionar im Kongo tätig war. Wie ihr Ahne fuhr sie auf einem Schiff von Europa nach Matadi, einer Küstenstadt des Kongo. Mit ihr reisten Kolonisten, die ihr eine Menge darüber erzählten, wie „die Schwarzen“ so seien. Sie hörte sich das alles an und war froh, als sie in Kinshasa endlich beginnen konnte, sich ihr eigenes Bild zu machen. Doch sie stellte bald fest, dass die belgischen Landsleute, bei denen sie zunächst unterkam, kaum Kontakte zur einheimischen schwarzen Bevölkerung hatten und daran auch gar nicht interessiert waren. Erst nach und nach öffnete sich ihr hier und da eine Tür in die fremde Welt und jeder Kontakt zog einen neuen nach sich.

Das macht ihre Bücher zu etwas Besonderem: sie begibt sich in das alltägliche Leben der Zairer/Kongolesen, das sich nicht auf Schlagworte wie Armut, politische Instabilität, Korruption oder HIV reduzieren lässt. Diese Zustände bilden nur den Hintergrund für ihre Erzählungen. Einmal schreibt sie zum Beispiel darüber, wie sie einen Angestellten einer Telefongesellschaft bestach, weil sie ein dringendes Telefonat nach Europa führen musste – ein nahezu unmögliches Unterfangen. Sie erzählt, wie aufgeregt und unsicher sie dabei war. Am Ende, als es geklappt hatte, überwog das Gefühl, jetzt ein bisschen mehr dazuzugehören. Nicht jenes, in ein schrecklich unzivilisiertes Land geraten zu sein.

Ein halbes Jahr lang war sie in Zaire/Kongo, sie hat verschiedene Provinzen dieses Landes besucht, das sechseinhalb Mal so groß ist wie Deutschland. Mit einem Schiff  schipperte sie auf dem Fluss Kongo – auf der Strecke, von der schon Joseph Conrad in „Herz der Finsternis“  erzählt  – als  einzige Weiße unter dreitausend Schwarzen. Sie flog mit Flugzeugen, die in Europa nicht zugelassen würden, und fuhr selten Auto oder Motorrad – der Kongo besitzt bis heute kein ausgebautes Straßennetz. Neugier auf das einfache Leben der Menschen trieb sie an, und dafür konnte sie auch stillsitzen. So blieb sie in einer Stadt wie Kisangali (Schauplatz des Romans „An der Biegung des großen Flusses“ von V.S. Naipaul ) mehrere Wochen, obwohl es nicht viel zu sehen gab. Aber dort lebten Menschen, von denen sie mehr wissen wollte. Die Neugier war durchaus gegenseitig; immer wieder wurde sie von den Menschen eingeladen, einen Moment ihres Lebens mit ihnen zu teilen.

Am Ende geriet sie doch noch in Schwierigkeiten, nicht mit den Menschen, sondern mit dem System – als sie gemeinsam mit einer europäischen Journalistin einen Weißen interviewte, der Dinge wusste, die im Ausland nicht bekannt werden sollten. Joris landete für kurze Zeit im Gefängnis.

Das hat sie nicht davon abgehalten, wieder nach Zaire zu reisen, elf Jahre später, als sich die politischen Verhältnisse gerade änderten – besser gesagt: ein autokratischer Machthaber vom nächsten abgelöst wurde. In diesen unruhigen Zeiten besuchte sie Freunde, die dem Leser schon aus ihrem ersten Buch bekannt sind, und schloss neue Freundschaften. Sie blieb sogar noch im Land, als die Botschaften schlossen und westliche Diplomaten und Geschäftsleute das Land verließen, weil die Lage unübersichtlich und gefährlich wurde. Sie blieb an der Seite ihrer Freunde, selbst wenn in diesen Zeiten die Freundschaften auf harte Proben gestellt wurden, denn Machtvakuum und Chaos ließen alte Konflikte aufbrechen. Lieve Joris blieb und trägt heute die Geschichten der Kongolesen in die westliche Welt – als Beitrag zu mehr Verständnis und Verständigung. Sie leugnet ihren westlich geprägten Blickwinkel nicht, aber es gelingt ihr, ihn nicht zum Maßstab zu machen, gerade in Momenten, in denen sie einer vollkommen fremden Welt gegenübersteht.

Dafür sind ihre Bücher sowohl in Frankreich als auch in Belgien und den Niederlanden mehrfach ausgezeichnet worden. Trotzdem gibt es nicht einmal einen deutschen Wikipedia-Eintrag über sie, was mich überrascht hat.

Von ihren Büchern sind einige übersetzt worden und ich freue mich schon sehr auf weitere Reisewochenenden mit ihr. Es geht noch einmal in den Kongo, in „Die Stunde  der Rebellen“. Vielleicht lasse ich mich verzaubern von „Die Sängerin von Sansibar – Reiseberichte aus einer magischen Welt“  . Oder ich kriege den „Mali Blues“.

Den können Sie auch bekommen und glauben Sie mir: Es lohnt sich.

Neugierige Grüße

Ihre Dorrit Bartel

 

P.S. Lieve Joris ist nicht nur in Afrika gereist. Gespannt bin ich auch auf „Die Tore von Damaskus“, für das sie einige Monate mit einer syrischen Freundin und ihrer Tochter deren Leben geteilt hat. Vor dem Hintergrund aktueller Debatten erhoffe ich mir davon spannende Einsichten in das Leben der Fremden, von denen ein kleiner Teil jetzt bei uns Zuflucht vor Krieg sucht.

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