Von tanzenden Visionen und Säulenheiligen – Ein Berliner Friedhofsspaziergang

Ich hatte noch etwas Zeit. Das Treffen mit unserem Sohn und seiner Freundin zog sich etwas hinaus, also bummelte ich die Friedrichsstraße hinauf, kam am Haus der ullsteinbuchverlage vorbei (das ist der Verlag mit der Eule, die kein Auge zukneift!), bog in die Chausseestraße ab und stand plötzlich vor dem Friedhof der Französisch-Reformierten Gemeinde Berlins.

ULLSTEIN

Interessiert schaute ich durch das Tor und sah im schattigen Halbdunkel einige bemerkenswerte Grabmale. Da ein schattiger Platz an diesem heißen Tag nicht zu verachten war und in der Hoffnung, ein interessantes Grab zu entdecken, trat ich ein. Ich wurde nicht enttäuscht. Nur wenige Meter musste ich gehen, um vor dem grünen Grabmonument von Ludwig Devrient zu stehen. „Geboren am 15ten December 1774. Gestorben am 30sten December 1832“. Nicht alt geworden, der Kamerad, überlegte ich. Gerade 48. Irgendwie sagte mir der Name auch etwas, doch musste ich erst auf die Tafel am Eingang schauen, um der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Devrient war ein begnadeter Schauspieler gewesen, vom Publikum verehrt, Träger des Iffland-Rings, jenes Rings, den Iffland gestiftet hatte, der Dramatiker, der am Mannheimer Nationaltheater die Uraufführung des Dramas »Die Räuber« von Friedrich Schiller geleitet und die Rolle des Franz Moor selbst spielte. Jenes Rings, der vom Träger testamentarisch auf den jeweils bedeutendsten Bühnenkünstler seiner Zeit auf Lebenszeit weitervererbt wird. Ludwig Devrient war der Erste. Nach ihm kamen Emil Devrient (sein Neffe), Theodor Döring, Friedrich Haase, Albert Bassermann, Werner Krauß und Josef Meinrad. Seit 1996 hat ihn Bruno Ganz. Iffland war jedoch nicht nur Schauspieler, sondern auch einer der Serapionsbrüder, Freund und Trinkbruder von E.T.A. Hoffmann. Der Alkohol war vermutlich der Grund für seinen frühen Tod. Seine Kunstgenossen spendierten ihm dieses Grabmal, wie an der Seite der Stele vermerkt ist. Nicht weit entfernt liegt noch das Grab von Klaus Piontek (1935 – 1998), einem anderen deutschen Schauspieler.

Devrient

Ich schaute mich um, ob noch weitere Gräber zu entdecken wären, die der näheren Betrachtung lohnen könnten. Bevor ich mich jedoch näher mit einzelnen Gräbern beschäftigen konnte, fiel mir ein eigenartiger Mann auf. Dünn, groß, in merkwürdigen Beinkleidern, Stulpenstiefel, offenes Rüschenhemd, altertümliche Jacke. Den Kopf zierte ein pechschwarzer Haarschnitt, der entfernt an die Irokesenhaare jugendlicher Punks erinnerte, war aber doch ein wenig anders, vor allem nicht gefärbt, sondern naturpechschwarz. In der Hand hielt der Mann eine lange Pfeife. Und er tanzte. Auf einem Bein. Drehte sich, sah schelmisch zu mir hinüber, hüpfte, sprang, tanzte, drehte sich. Ich war verwirrt. Was war das denn für einer? Vielleicht hatte ich das nicht gedacht, sondern laut gesagt, denn neben mir flüsterte jemand. »Das ist mal wieder der Kreisler. Johannes Kreisler. Der ist allweil vergnügt und manchmal auch ganz schön verrückt.«

Ich sah zur Seite und sah einen Mann in altdeutscher Tracht. Lockiges Haar. Backenbart, der bis zum Kinn hinunterging. Lange, scharfe Nase. Um seine Beine strich ein schwarzer Kater. »Johannes Kreisler?« sagte ich verwirrt. »Aber den gibt’s doch gar nicht! Das ist doch eine Romanfigur.«

Der Mann lachte leise in sich hinein, wies mit der Hand dorthin, wo eben noch der Kreisler getanzt hatte. Ich schaute hin, sah ihn zwischen den Gräbern entlanglaufen und folgte ihm intuitiv. Das wollte ich doch jetzt genau wissen, wer das war. Fragen kostet nichts, also ihm nach. Er aber hatte schon das Tor an der Ecke erreicht und verließ den Friedhof. Hinter mir hörte ich »Bleib, Murr. Der Kreisler kommt schon wieder.«

Nun war ich auch am Tor angekommen, blieb aber wie angewurzelt stehen. Wie hatte er den Kater genannt? Murr? Ich drehte mich um, und suchte Mann und Kater, sah aber keinen von beiden, wandte mich zurück und suchte den, der Kreisler sein sollte, fand den aber auch nicht mehr. So ist das, wenn man sich nicht entscheiden kann: oft verliert man dann alles. Aufseufzend, eine Fata Morgana als Erklärung vorschiebend – an einem so heißen Tag in einer Stadt wie Berlin kann einem schon einiges vor den Augen flimmern – ging ich weiter, nicht mehr daran interessiert, auf den Friedhof zurückzukehren; und stand vor einem neuen Grab. Ich stutzte. Ein Grab hinter dem Friedhof? Ich sah mich um und erkannte weitere Gräber, viele Gräber, zahlreiche Gräber. Die Erklärung gab eine Tafel, wenige Schritte entfernt. An den Französischen Friedhof schloss sich der Dorotheenstädtische-Friedrichwerdersche Friedhof an.

litfass

Eine unsichtbare planvolle Führung schien mir einige Überraschungen zu bereiten. Nun schaute ich mir auch das Grab näher an, vor dem ich zum Stehen kam. Eine kleine Plakette am unteren Rand wies es als »Berliner Ehrengrab« aus. Neugierig schaute ich auf die Tafel mit dem Namen: „E. Litfass“ stand dort in verschnörkelten Buchstaben. Na so was. Da stand ich also vor dem Grab des Säulenheiligen, der die unförmigen Tonnen über Deutschland verbreitet hat, an denen so manches Plakat für Theateraufführungen (leider nicht nur dafür) geklebt wurde und noch  wird. Heute scheinen die großen, überdimensionierten Tafeln an Wänden und Mauern diese Plakatsäulen langsam zu verdrängen, doch verschwunden sind sie noch nicht. Rund 50.000 Litfaßsäulen soll es in Deutschland noch geben.

Kirsch

Wenige Schritte nach links und ich stand vor den Gräbern von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) und dem Ehepaar Fichte (Johann Gottlieb Fichte, 1762 – 1814 und seine Frau Johanna Fichte, 1755 – 1819). Name über Name fand ich auf den Grabsteinen, die mir bekannt waren. Christa Wolf (1929 – 2011) liegt auf diesem Friedhof begraben, Johannes Rau (1931 – 2006), der Dichter Rainer Kirsch (1934 – 2015), Anna Seghers (1900 – 1983), Arnolt Bronnen (1895 – 1959), Heinrich Mann (1871 – 1950) und, in einem großen Grab, das beinahe wie ein Bett aussieht mit zwei Kissen am oberen Ende, vereint, Helene Weigel (1900 – 1971) und Berthold Brecht (1898 – 1956).

HeleneBert

Sicher gibt es noch mehr Gräber auf diesem Friedhof, vor denen man mit Muße derjenigen gedenken könnte, die dort ruhen. Doch unbegrenzte Zeit war mir an diesem Tag nicht beschieden. Das Telefon klingelte, man fragte mich, wo ich bleibe und so hieß es Abschied nehmen. Dass ich ein anderes Mal wiederkomme, weil ich noch nicht alles »ausgesehen« habe, ist aber gewiss.

Im Jaron Verlag, Berlin ist ein Buch erschienen, das ich allen Berlinern und solchen, die Berlin besuchen, ans Herz lege: Es wurde geschrieben von Ingolf Wernicke, heißt »Berliner Friedhofsspaziergänge“ (ISBN 978-3-89773-644-3) und kostet nur 12,95 Euro. Wer etwas planvoller als ich Friedhöfe in Berlin besuchen möchte, ist mit diesem Buch gut beraten. 15 Friedhöfe, die über das ganze Stadtgebiet verteilt sind, werden darin beschrieben.

Und zum Schluss gibt es diesmal etwas zu gewinnen. Einmal, weil ich denke, dass diejenigen, die meine Friedhofsbegehungen bis zum Ende lesen, eine Belohnung verdienen und weil es mir Spaß macht, das eine oder andere Rätsel anzubringen. Der erste, der als Kommentar unter diesem Artikel postet, wer der merkwürdige Herr auf dem Französischen Friedhof war und was es mit dem Kater auf sich hat, bekommt mein gerade erschienenes Buch »Geheime Orte in Unterfranken«, Nicolai-Verlag, von mir geschenkt. Auf Wunsch mit Widmung. Auch darin wird über interessante Gräber berichtet, sogar über eins, in dem nur ein Herz liegt, aber auch über vieles andere, was sich in Unterfranken entdecken lässt. Mitglieder des Blogteams dürfen natürlich nicht mitmachen!

Bis zum nächsten Friedhofsspaziergang,

Ihr Horst-Dieter Radke

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