Fingerfood

Ich befinde mich jetzt seit gut einer Woche im Ferienmodus, schlafe jeden Tag mindestens acht Stunden, nehme mir alle Zeit, die ich brauche, um langsam in den Tag zu kommen – etwa zwei Stunden –, und stürze mich dann kopfüber in den Haufen Bücher, den ich bereits Wochen vorher ins Regal geschichtet hatte. Ferienzeit ist Schreibzeit. Und Lesezeit.

Nach dem Aufstehen setze ich mich mit einer Tasse richtig guten Kaffees auf den Balkon, in das kleine Dreieck aus Sonnenlicht, und warte auf das Erscheinen der Eichhörnchen und das Gekreische der Mauersegler, die wenige Meter von meinem Sitzplatz entfernt vorbeirasen. Hier ist Platz für die Natur und für meine Neugierde auf unbekannte Autoren.

Dieses Jahr sind einige Japaner mit von der Partie, Yasunari Kawabata z.B., dessen „Ein Kirschbaum im Winter“ schon allein deswegen auf meiner Leseliste steht, weil ich derlei normalerweise überhaupt nicht lese. Weil das Zeug ist, an dem sich Literaturstudenten abarbeiten und vielleicht noch Deutschlehrer. Weil der Roman in einem Japan spielt, das der Vergangenheit angehört. Weil man in diese ferne und vergangene Welt eintauchen kann, die Figuren mit sehr viel Liebe und Sorgfalt gezeichnet sind, der ganze Text voller Symbolik ist, von der man als Europäer  Bruchteile versteht, die aber trotzdem nicht anders als anmutig finden kann.

Außerdem scheint dies mein Sommer der Lyrik zu werden. Einer meiner Lieblingsautoren ist Ralf Rothmann. Jahrelang habe ich versucht, seine Sachen nicht zu schnell zu lesen, sodass immer mindestens ein ungelesener Roman auf mich wartete. Damit ist es aber bald vorbei, was einfach daran liegt, dass Romane zu schreiben länger dauert als Romane zu lesen. Darum habe ich vor etlichen Jahren Rothmanns Erstling gekauft, den Gedichtband „Kratzer“, denn ich lese eigentlich keine Gedichte, von dem Buch würde ich also noch lange etwas haben. Hatte ich auch. Bis letzten Sonntag. Da schickte ich all meinen früheren Deutschlehrern für ihr „Was will uns der Autor damit sagen?“ einen imaginären Stinkefinger, vergaß, dass ich keine Gedichte lese und schlug das kleine Büchlein ungefähr in der Mitte auf. Ich las und las und ich war so verblüfft, dass ich mehrmals erschrocken die Luft einsog, weil mich irgendwas gezwickt hatte. Aber was mich da gebissen hatte, das waren keine Mücken. Es waren überhaupt keine Tiere, nein, das waren Zeilen von Rothmann. Es hatte mich voll erwischt. Die Gedichte handeln vom Leben an sich, vom Menschen, von Arbeit, Gastarbeitern, Liebe, Familie. Es geht darin um Hass, um kleine Intrigen und um das große Ganze.

Gedichte muss man nicht verstehen. Man braucht sie nicht zu interpretieren. Man braucht sie nur machen zu lassen, muss ihnen den nötigen Platz geben, Raum und Zeit, damit sie sich entfalten können.

Der Band war schnell durch und meine Neugierde geweckt. Ich war jetzt Lyrikfan, und zwar ganz offiziell. Ich brauchte mehr. Beim Aufstöbern weiterer Nahrung versuche ich, ausgetretene Pfade zu meiden. Ich mag das Gefühl, in einer Weinhandlung in die Abteilung mit den 15,00-Euro-Flaschen zu gehen und wahllos ein halbes Dutzend davon herauszugreifen, ohne auf das Etikett zu schauen. Mit dieser Taktik trat ich vor das Lyrikregal im Buchladen. Bisher kamen dabei Vallejo, Kaléko und Fried heraus. Ok, und nochmal Rothmann. Seither hat meine Morgenroutine eine Nuance mehr. Während des Kaffees schaue ich nicht mehr nur den Mauerseglern bei ihren halsbrecherischen Kehren und Verfolgungsjagden zu, danke dem Sonnenlicht für seine Wärme und halte Ausschau nach Eichhörnchen. All das tue ich zwar immer noch, aber nebenbei nasche ich Gedichthäppchen, als wären sie Fingerfood, zubereitet von Sterneköchen.

Ihr Christoph Junghölter

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