Reisen und Lesen in Indonesien – Teil 1

In letzter Minute zögere ich – wie eigentlich immer vor größeren Reisen – und frage mich, ob ich die nächsten drei Wochen nicht lieber zu Hause bleiben will. Ich könnte mich in eine Decke auf dem Sofa kuscheln und nur mit Büchern reisen – auf meinem SUB liegen einige Bücher indonesischer Autoren. Dann erreicht mich noch eine E-Mail von Daniel: „Grau ist es in Jakarta heute auch.“ Soll ich wirklich um die halbe Welt fliegen, um immer noch grauen Himmel über mir zu haben? Aber der Koffer ist gepackt, ich bin für den Flug bereits eingecheckt und in Berlin sind nur 4 Grad, während es in Jakarta – wie eigentlich immer – 30 Grad sind. Außerdem erwarten Daniel und David mich. Also packe ich ein paar Bücher vom SUB in den Koffer und fliege.

Noch ist mein Überblick über die indonesische Literatur sehr beschränkt, ich habe „Saman“ von Ayu Utami gelesen und „Die Regenbogentruppe“ von Andrea Hirata gehört – zwei Bücher, die gegensätzlicher kaum sein könnten. „Saman“ ist als literarische Sensation gefeiert worden und hat mich auf ein fremdes Land vorbereitet. Geister und Träume spielen eine Rolle und ich wartete vergebens darauf, dass diese Sequenzen logisch aufgelöst würden. Zeit- und Perspektivwechsel haben mich verwirrt und Bezüge auf politische Ereignisse in Indonesien zum Recherchieren gezwungen. Deshalb weiß ich jetzt, dass Indonesien über dreißig Jahre von Präsident Suharto regiert wurde. „Saman“ spielt in der Zeit, in der Suhartos Macht schon schwand, auch wenn es bis zu seinem endgültigen Ende noch ein paar Jahre dauerte. Doch die Verhältnisse waren schon in Auflösung begriffen, der Widerstand wuchs. Auch wenn der sich manchmal an Dingen entzündete, die gar nichts mit der großen Politik zu tun zu haben schien. Trotz aller Verwirrtheit konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen, ich wollte wissen, was aus dem Priester wird, der politischen Widerstand leistet, sich verliebt und schließlich ins Exil geht. Rational habe ich es jedoch nicht verstanden.

Einfach und unschuldig hingegen kommt „Die Regenbogentruppe“ daher; es spielt auf einer der armen Inseln Indonesiens, auf denen es nur denen etwas besser geht, die einen Job im Bergbau gefunden haben. Die Schüler der Regenbogentruppe gehören nicht dazu. Für ihre Familien ist es ein Opfer, die Kinder zur Schule zu schicken, denn so können sie nicht arbeitend zum Familieneinkommen beitragen. Schnell wird aus den Schülern und ihrer Lehrerin eine verschworene Gemeinschaft, die den Beweis dafür antritt, dass Bildung der Schlüssel für die Zukunft ist. Auch dieses Buch ist für mich ungewohnt, wenn auch aus ganz anderen Gründen – nämlich der Naivität wegen, die sich durch das ganze Buch zieht. Deshalb stufe ich das Buch als Jugendbuch ein, mit dem Lehrsatz: Glaube immer an deine Fähigkeiten, mache diejenigen um dich zu deinen Verbündeten und höre nicht auf, von einer besseren Zukunft zu träumen. Dann kannst du auch als einer der ärmsten Schüler ein bekannter Schriftsteller werden. Das hat Andrea Hirata bewiesen, dessen Buch autobiografisch ist und zu den meistgelesenen in Indonesien gehört.

Nach etwa 20stündiger Reise lande ich in Jakarta und bin froh, im Gewühl Daniel und David zu entdecken, die mich sicher zu ihrem Auto lotsen. Supono, ihr Fahrer, der mich auch in den folgenden Tagen an verschiedene Orte in Jakarta bringen wird, fährt uns nach Hause. „Wie lange fahren wir zu Euch?“ „Wenn kein Verkehr ist – was selten vorkommt – 35 Minuten.“ Wir brauchen ca. 80 Minuten, weil der Verkehr so ist, wie er in Jakarta eben ist und am Ende der Fahrt weiß ich, dass ich meinen Internationalen Führerschein unnötigerweise im Gepäck habe. Hier werde ich nicht Auto fahren. Nicht nur wegen des Linksverkehrs, sondern vor allem, weil die Straßen voll sind. Obwohl meist dreispurig in eine Richtung, kommen wir oft nur im Schritttempo vorwärts, immer sortieren sich von Nebenstraßen weitere Autos ein. Dazwischen schlängeln sich Motorroller, die als Fortbewegungsmittel für die ganze Familie dienen, oft sitzen Vater, Mutter und Kind auf der Sitzbank. Ich werde sie selbst als sehr praktisches Fortbewegungsmittel kennenlernen, man kann sie als zweirädrige Taxis mit Fahrer bestellen.

Im indonesischen Verkehr wird viel gehupt, aber anders als zu Hause ist es immer ein eher freundliches Hupen, das sagt: „Entschuldigung, dürfte ich bitte …?“ Das funktioniert offenbar gut, denn ich sehe während der drei Wochen meines Aufenthalts nur einen einzigen Unfall.

Immerhin gibt mir die lange Fahrt Gelegenheit, das nächtliche Jakarta zu bewundern. Da sind auf der einen Seite Wolkenkratzer, beleuchtet und teilweise mit riesigen Bildschirmen behängt, die für irgendetwas Werbung machen und auf der anderen Seite die kleinen Stände am Straßenrand. Dort werden Mahlzeiten verkauft oder Benzin in Plastikflaschen – für die Roller. Ich denke an das Jakarta, das Mochtar Lubis in „Dämmerung in Jakarta“ beschrieb. Der Gesellschaftsroman entstand zu einer Zeit, als die Wolkenkratzer hier noch nicht standen, nämlich um 1960. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen, über die Lubis in seinem Buch schreibt, dürften sich aber hier und heute immer noch finden lassen: die Armen, deren Wochenlohn kaum ausreicht, sich anständig zu ernähren. Die Aufsteiger, die sich satt essen, aber ein neues Dach über dem Kopf brauchen. Und diejenigen, die erkannt haben, wie sich unter den aktuellen Umständen am besten Geld verdienen lässt und die dabei die Möglichkeiten aktueller Gesetze bis aufs Äußerste dehnen oder aber auch überschreiten. Bei Frauen heißt der Weg zu mehr Wohlstand nicht selten Prostitution – die offene Darstellung dessen hat mich überrascht. In der deutschen Literatur ging es zu jener Zeit weitaus verklemmter zu. Die politischen Diskussionen, die bei Lubis für meinen Geschmack etwas zu viel Raum einnehmen und sich darum drehen, ob Indonesien sich eher an westlichen Demokratien oder am Sozialismus à la Sowjetunion oder China orientieren soll, sind heute allerdings wohl andere. Sozialismus als Möglichkeit war schon ab 1965 passé, als Präsident Suharto sich an die Macht putschte. In seiner Zeit wurden hunderttausende (angebliche und wirkliche) Kommunisten ermordet oder gefangen genommen. Indonesien ist seit ca. 15 Jahren ein demokratischer Staat. Die meisten Bewohner leben einen gemäßigten Islam, vier weitere Religionen sind anerkannt (Christentum, Buddhismus, Hinduismus und Konfuzianismus). Jeder Indonesier ist verpflichtet, sich zu einer dieser Religionen zu bekennen. Die öffentliche Diskussion wird heute bestimmt von der Frage, wie radikal der Islam sein kann/darf/soll.

Morgen geht es weiter mit Teil 2.
Ihre Dorrit Bartel

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