Reisen und Lesen in Indonesien – Teil 4

Ich absolviere einen weiteren Tourismusprogrammpunkt, besuche die hinduistischen und buddhistischen Tempel in Prambanan.

Nach einer Stunde in der Hitze sinke ich ermattet auf eine Bank, da stürzt ein indonesischer Familienvater auf mich zu – er hätte gern ein Foto mit mir und seinen Kindern und weil ich mich nicht wehre, drapiert er auch noch seine Ehefrau neben mich auf die Bank. Es spricht sich schnell herum, dass eine Europäerin sich fotografieren lässt und kaum hat der eine Familienvater sein Shooting beendet, steht der nächste bereit, um ebenfalls seine Kinder mit mir auf ein Foto zu bannen. Ich lasse das Prozedere ungläubig-amüsiert über mich ergehen und denke an alle die Menschen, die sich auf meinen Reisen bereitwillig von mir haben fotografieren lassen. Erst nachdem zum vierten Mal die Ehefrau neben mir ausgetauscht wird, gelingt es mir, mich mit einem entschuldigenden Lächeln zu entziehen.

Schlafender Bauarbeiter in Prambanan

Am Abend beziehe ich mein neues Quartier bei Maya in Borobudur. Maya ist etwa so alt wie ich, betreibt ein Kaffeehaus und vermietet zwei Zimmer, allerdings bin ich in diesen Tagen ihr einziger Gast. Das gefällt ihr, denn so hat sie mehr Zeit, mir die Gegend zu zeigen. Klar könnte sie mehr Geld verdienen, wenn beide Zimmer belegt wären, aber das ist ihr nicht wichtig. Ich fühle mich von Anfang an, als sei ich bei einer Freundin zu Besuch. Wir reden oft und lange, manchmal fahren wir mit Mayas Roller über die Dörfer und Reisfelder um Borobodur. Sie zeigt mir ihre Lieblingsaussichtsorte, das Atelier eines Freundes und ein verstecktes Restaurant am Fluss, in dem wir die einzigen Gäste sind und köstlich speisen. Sie erzählt von den Anfängen ihres Kaffeehauses, das sie quasi allein eingerichtet hat und betreibt. Bevor sie das Haus übernahm, stand es lange leer, denn hier gab es Geister. Heute ist das Haus geisterfrei; Maya hat sie vertrieben – mit Räucherstäbchen, Gebeten, Nachtwachen. Manchmal – sagt Maya – hört sie ein Poltern auf dem Dach. Geister bei dem Versuch, wieder ins Haus zu gelangen. Aber ihre Abwehrgebete funktionieren, es herrscht Stille nach dem Poltern, die Geister bleiben draußen. Erst wenn es nach dem Poltern raschelt, droht Gefahr. Ein bisschen lacht Maya, als sie mir davon erzählt, als wüsste sie, dass ich sie und ihren Geisterglauben nicht ernst nehmen werde, er nun mal aber zur Geschichte ihres Kaffeehauses dazugehört. Ich bin mir auf einmal nicht mehr sicher, was die Existenz von Geistern angeht.

Auf dem Markt in Borobodur

Manchmal verbringen wir nur einfach ein paar Stunden in ihrem Café, das in diesen Tagen nicht gut besucht ist – es ist Nebensaison. So hat Maya Zeit zu malen, während ich auf der Terrasse sitze und lese, umgeben vom Duft der Nelkenzigaretten, die Maya den ganzen Tag raucht. Sie geben den passenden Hintergrund für meine nächste Lektüre ab: „Das Zigarettenmädchen“ von Ratih Kumala. Der Roman erzählt die Geschichte zweier Familienimperien, die für die Herstellung von Zigaretten auf Java bekannt geworden sind. Der Patriarch des einen Imperiums spricht auf seinem Sterbebett von einer Frau, von der seine Söhne noch nie gehört haben. Sie machen sich auf den Weg, diese Frau zu suchen und nach und nach wird eine Geschichte enthüllt, in der ihr Vater nicht nur ein Held war. Geschickt verwebt die Autorin die heutige Reise der Brüder mit der Geschichte des Vaters und jener Frau, deren Schicksale von den politischen Umbrüchen Indonesiens in den letzten Jahrzehnten beeinflusst waren. Sie haben in dieser wechselvollen Zeit ihr Leben gelebt und aus den Bedingungen das Beste gemacht haben. Ratih Kumala erzählt das leicht und mit geschickten Perspektivwechseln, die es dem Leser unmöglich machen, sich ganz auf die Seite einer Figur zu stellen. Erstmals empfinde ich die Naivität als überzeugend, ich erkenne sie als Unvoreingenommenheit und Versöhnlichkeit. Hier in Mayas Kaffeehaus frage ich mich, seit wann und wieso eigentlich Naivität für uns zu einem Schimpfwort verkommen ist. Ich muss an Daniel denken, der mir erzählte, dass es so gut wie keine Gewaltkriminalität in Jakarta gibt und wie erstaunlich er das findet, in einem Land, in dem es im vergangenen Jahrhundert unfassbar viel Grausamkeit gab. Vielleicht ist das eine Besonderheit Indonesiens: die Freundlichkeit. Tatsächlich fühle ich mich während meiner Reise nicht ein einziges Mal unsicher. Fremd ja, aber nicht gefährdet.

Natürlich besuche ich den Tempel in Borobodur. Auf Empfehlung von Maya gehe ich zum Sonnenaufgang hin – mir gelingen ein paar Bilder, die vermuten lassen, dass ich ganz allein dort war, was nicht stimmt, aber morgens um halb sechs waren wir nur etwa vierzig Besucher.

Als die Sonne gnadenlos zu brennen beginnt und die Busse auf dem Parkplatz ihre Touristengruppen ausspucken, bin ich schon wieder zu Hause bei Maya und erhole mich davon, im Urlaub um halb fünf aufgestanden zu sein. Später steige ich auf das Fahrrad, das Maya für mich bereithält und fahre ein Stück der Strecke, die wir am Vortag auf dem Roller gefahren sind. Schulkinder radeln an mir vorbei und winken. In einem Garten sitzt eine alte Frau und lächelt mir zu. Auf dem Rückweg zeigt sie ein Lächeln des Wiedererkennens, als Weiße falle ich hier auf. Auch für die Arbeiter auf dem Reisfeld scheint ein weißes Gesicht eine willkommene Abwechslung zu sein. Ich sauge Stille und frische Luft in mich auf – wappne mich für meine Rückkehr nach Jakarta.

Dort wartet die Überraschungsreise auf mich, davon erzähle ich morgen.
Ihre Dorrit Bartel

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