Ich war Old Shatterhand, und Winnetou war mein Blutsbruder

Manche erinnern sich sicher noch an die Zeit, als sie Winnetou und Old Shatterhand mit Taschenlampe unter der Bettdecke durch die Prärie begleitet haben. Bestimmt schmunzelt diese und jener auch noch über die Abenteuer des berühmten Kleeblatts, die einen – Sam Hawkens sei Dank – auch mal zum Schmunzeln veranlassten. Ich weiß noch, wie ich tränenblind aus dem dunklen Kinosaal ins Freie trat, nach dem ich den Tod Ntscho tschis in „Winnetou I“ oder den Tod Winnetous im Film „Winnetou III“ miterleben mussten. Lange ist’s her. Dass dieses Werk nach über hundert Jahren noch immer seinen Reiz behalten hat und in zahlreichen Buchausgaben nach wie vor verkauft wird, zeigt, dass es Karl May gelungen ist, eine zeitlose Story zu schaffen, die weit über viele andere Abenteuerromane hinausweist. Das liegt sicher nicht nur daran, dass er spannend zu erzählen wusste, sondern auch daran, dass er sich engagiert auf die Seite der damals wie heute Unterlegenen, der Indianer, geschlagen hat.

Vom Lehrerseminar ins Zuchthaus

Anfang Mai 1874 verließ ein magerer, nicht allzu großer junger Mann das Zuchthaus zu Waldheim und kehrte ins elterliche Haus in Ernsthal im Erzgebirge zurück, fest entschlossen, sein Leben künftig außerhalb von Gefängnismauern und als Schriftsteller zu verbringen. 1842 in einer armen Weberfamilie als fünftes von vierzehn Kindern geboren, war der junge Karl May ein aufmerksamer und talentierter Schüler, den der Vater aus persönlichem Ehrgeiz zusätzlich zum Lernen unnützen Wissens aus wahllos herbeigeholten Büchern zwang. Noch während der Ausbildung am Lehrerseminar in Waldenburg wurde er wegen Unterschlagung von sechs Kerzen ausgeschlossen, konnte aber auf dem Gnadenweg ein Weiterstudium in Plauen erreichen. Die Anzeige eines Zimmergenossen wegen des Diebstahls einer Taschenuhr führte zu einer sechswöchigen Haftstrafe. Man strich ihn nun endgültig aus der Liste der Lehramtskandidaten. Die Versuche, auf legale Weise den Lebensunterhalt zu verdienen, waren nicht sehr erfolgreich. Er kam wegen Diebstahls, Betrugs und Hochstapelei wiederholt ins Gefängnis und zuletzt ins Zuchthaus.

Nun arbeitete May intensiv daran, dass künftig alles anders würde. Bereits im November 1874 konnte er eine erste Erzählung veröffentlichen (Die Rose von Ernsthal). Im März des folgenden Jahres nahm er einen Redakteursposten bei dem Dresdner Verleger Münchmeyer an und betreute dessen Zeitschriften. Für diese lieferte er weitere Arbeiten, so die Novelle Wanda und die Erzählung Der Gitano, in der er erstmals die Perspektive des Ich-Erzählers nutzte.

In der Zeitschrift „Deutsches Familienblatt“ erschien im September 1875 unter dem Sammeltitel Aus der Mappe eines Vielgereisten eine Erzählung mit dem Titel Inn-nu-woh, der Indianerhäuptling. Der rettet darin auf einem Raddampfer eine junge Frau vor einem ausgebrochenen bengalischen Tiger. Drei Jahre später, im Oktober 1878, bringt May die Erzählung etwas überarbeitet in der Zeitschrift „Omnibus“ mit dem Titel Winnetou. Eine Reiseerinnerung unter. Damit war ein Indianerhäuptling geboren, der zwar nie gelebt, aber seither einen legendenhaften Ruf erlangt hat, insbesondere in Deutschland.

Winnetous Entwicklung

War Winnetou noch bei seinem ersten Auftreten „im Anfange der fünfziger Jahre“ stehend, von gedrungenem Bau und mit breiter Brust, so wandelte er sich bis zu seinem (chronologisch) ersten Auftreten in Winnetou I zu einem hochgewachsenen, schlanken jungen Mann mit ernstem Gesicht „und einem Doppelgewehr“. Die berühmte Silberbüchse war zunächst die Waffe seines Vaters Intschu tschuna. Erst nach seinem Tode nahm Winnetou sie an sich.

Bereits bei seinem Auftreten im Jahr 1875/78 merkte der Erzähler an: „[…] das dichte, dunkle Haar hing ihm in langen, schlichten Strähnen bis weit über die Schultern herab“. In Winnetou I war das Haar jedoch „so lang, dass es dann noch reich und schwer auf den Rücken niederfiel.“

Die Verklärung dieser Gestalt nahm später noch zu. In Weihnacht beschrieb May seinen Lieblingshelden folgendermaßen: „[…] seine königliche Haltung, sein freier, ungezwungener, elastischer und doch so stolzer Gang zeichneten ihn doch als den Edelsten von allen aus.“ Manchmal bekam die Beschreibung Winnetous beim späten May sogar eine erotische Komponente: „Darum war der sanfte, liebreich milde und doch so energische Schwung seiner Lippen stets zu sehen, dieser halbvollen, ich möchte sagen, küsslichen Lippen […]“ Nicht zuletzt deswegen wird Arno Schmidt in seiner Karl-May-Studie Sitara und der Weg dorthin May wohl homoerotische Neigungen zugeschrieben haben.

Titelbild von Sascha Schneider (Quelle: www.karl-may-gesellschaft.de)

In seinen Büchern sind keine näheren Angaben zum Geburts- und Sterbedatum Winnetous genannt. In seinen Leserbriefen wird man aber fündig. Da war May mitteilsam und berichtete gerne, insbesondere Leserinnen: „Sehr geehrtes Fräulein! Winnetou war geboren 1840 und wurde erschossen am 2./9.1874.“

Von der Kurzgeschichte zum Roman

Karl May, bisher nie aus Deutschland herausgekommen, schrieb Erzählungen und Fortsetzungsromane, die er als Reiseerzählungen bezeichnete. Sie spielten im Orient, in dem der Ich-Erzähler als Kara Ben Nemsi auftrat und in Nordamerika, in dem er schnell den Namen Old Shatterhand bekam. Sie erschienen zunächst in Zeitschriften als abgeschlossene Erzählungen oder in Fortsetzungen. 1882 schien es aber mit Winnetou vorübergehend vorbei zu sein. In der Erzählung Im wilden Westen Nordamerikas schildert er Winnetous Tod. Diese Episode findet später Aufnahme in Winnetou III. Weitere Indianererzählungen folgen zunächst nicht. Erst 1886 taucht Winnetou wieder in einer kürzeren Erzählung auf und ein Jahr später beginnt der Abdruck des Romans Der Sohn des Bärenjägers im „Guten Kameraden“. 1888 folgt der Roman Der Scout im „Deutschen Hausschatz“, der später den Anfang von Winnetou II ergeben wird. Damit beginnt der eigentliche Erfolg von Winnetou. Die als Jugendroman veröffentlichte Erzählung Der Schatz im Silbersee wird überhaupt der erfolgreichste seiner Romane um Winnetou.

Im Jahr 1891 bot der Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld May an, die in Zeitschriften verstreuten Erzählungen in Buchform herauszubringen. Schon 1892 kamen die ersten Bände der Reihe Carl May’s Gesammelte Reiseromane heraus, beginnend mit den Orienterzählungen. Als diese abgeschlossen waren, sollten die Winnetou-Erzählungen folgen. May hatte inzwischen ein wenig den Bezug zur Realität verloren und sich immer mehr mit seinen Alter Egos Kara Ben Nemsi/Old Shatterhand identifiziert. Er ließ sogar die Gewehre – Winnetous Silberbüchse, den Henrystutzen und den Bärentöter – nachbauen und sich Trapperkleidung anfertigen. Der erste Band, so beschloss er, sollte vollkommen neu geschrieben werden. Er verwirklichte dies Ende 1892/Anfang 1893. Für die folgenden beiden Bände – Winnetou II und Winnetou III – fasste er vorhandenes Material zusammen und schrieb nur die verbindenden Elemente der Rahmenhandlung neu. Man merkt dies beim Lesen sofort. Der erste Band ist viel geschlossener, durchkomponiert. Kein Bruch, keine Lücke, keine zurechtgebogenen Handlungsstränge finden sich in diesem Roman, und deshalb zählt er auch wohl zu den Besten, die Karl May unter seinen Reiseromanen vorgelegt hat.

Karl Mays Selbstinszenzierung als Old Shatterhand (Quelle: www.karl-may-gesellschaft.de)

Nur ein Abenteuer-Reiseroman?

Berühmt ist auch der Anfang, die ersten Sätze der Einleitung – „Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein; dies hat, so sonderbar es erscheinen mag, doch seine Berechtigung.“ Gerne und oft wird der erste Halbsatz zitiert, um sich dann über diesen verschrobenen Autor zu amüsieren. Liest man aber weiter und lässt sich von May erklären, was er eigentlich damit meint, dann entfällt der Grund, sich über diesen Abenteuerschriftsteller lustig zu machen. Er bezeichnet den Indianer als sterbenden Mann, führt dies weiter aus und schlägt sich auf dessen Seite, was damals eher ungewöhnlich war. In der Einleitung zeichnet May das Bild eines Volkes, das dem Untergang geweiht ist, weil man ihm die Lebensgrundlage entzogen hat: „Wo sieht man die Büffel, welche ihn ernähren, als sie zu Millionen die Prärien bevölkerten? Wovon lebt er heute? Von dem Mehle und dem Fleische, welches man ihm liefert? Schau zu, wie viel Gips und andere schöne Dinges sich in diesem Mehl befinden […]“

Winnetou I ist ein spannender Abenteuerroman, keine Frage. Seit seinem Erscheinen hat er ()zig Jugendliche und Erwachsene begeistert. Aber in seiner ganzen Ausrichtung und seiner Haltung den Ureinwohnern Amerikas gegenüber ist es auch ein sozialkritischer Roman. Woher hatte May die Kenntnisse über die Situation der Indianer? Wie konnte er solches Detailwissen über das Land und seine Menschen haben? Er selbst war ja bis zur Niederschrift des Romans nie über die Grenzen Deutschlands hinausgekommen. Erst viel später, im hohen Alter, hat er eine Reise nach Amerika unternommen. Karl May hatte bereits im Gefängnis viel gelesen. Unter anderem die damals gängige Abenteuerliteratur, aber auch geografische Werke. Als Schriftsteller baute er sich eine Bibliothek auf, die ihm eine Reihe Handbücher der unterschiedlichsten Wissens- und Fachgebiete zur Verfügung stellte: Enzyklopädien, naturkundliche Bücher, solche über Hauswirtschaft, Feld- und Gartenbau, Krieg und Jagd, Geschichte, Sprachen, Philosophie, auch Okkultes und vor allem Geographie. May bediente sich dieser Literatur ausgiebig, verband dies mit seiner fast unbegrenzten Fantasie und schriftstellerischem Talent. So konnte auch bei kundigen Lesern der Eindruck entstehen, dass der Autor die beschriebenen Länder gesehen hat.

Wir wissen heute, dass Mays Indianerbild überholt ist. Der spannenden Handlung tut das keinen Abbruch. Seine Einschätzung der Situation der Ureinwohner Amerikas während seiner Zeit ist aber nach wie vor noch richtig und in seiner Kritik gerechtfertigt.

Tipp: Karl May konnte nicht nur Abenteuerromane schreiben. Sein Spektrum war größer. Er schrieb Dorfgeschichten, ein Buch zur sexuellen Aufklärung, historische Romane und Erzählungen, Kriminalromane und auch Liebesgeschichten. Wer darin einmal etwas tiefer eintauchen möchte, ist mit der Zusammenstellung Erkämpftes Glück (Karl May Verlag, Bamberg 2008, ISBN-13 978-3780201829) gut bedient.

 

Ihr Horst-Dieter Radke

 

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