Ich lese gerade: Mario Vargas Llosa „Tante Julia und der Kunstschreiber“

Meine Mutter liest gerne – besonders so anspruchsvolle Werke wie „Weihnachtsküsschen mit Schwips“, „Saturn steht auf Liebe“ oder, mein persönlicher Favorit, „Freche Engel küsst man(n) nicht“. Haben Sie das n in den Klammern gesehen? Da erkennt man (ohne zweites n) doch gleich schon am Cover, was  für eine frech humorige Schmunzelorgie da lauert.

Folglich war ich ein wenig zurückhaltend, als sie mir neulich einen sehr betagt wirkenden Roman aufdrängte: „Tante Julia und der Kunstschreiber“. Eine Liebesgeschichte zwischen einem jungen Mann und seiner koketten, geschiedenen Tante. Auf dem Cover eine stark geschminkte Blondine mit  ziemlich aus der Mode gekommener Dauerwellfrisur. Das würde was werden – eigentlich habe ich nur reingelesen, weil der Autor doch tatsächlich wie dieser peruanische Nobelpreisträger hieß … Und dann war ich hingerissen: Ein leichtfüßiger Roman über Liebe, Kunst und die Schwierigkeiten, als Autor Fuß zu fassen.

Abgewechselt werden in der Ich-Perspektive geschriebene  Kapitel durch spannende, leicht sensationslüsterne Kapitel mit auktorialem Erzähler. Und hier kriegen die Leser dann auch, was die fesche Blondine auf dem Hochglanzcover versprochen hat: Da  gibt es  Liebeswirren zwischen zwei bildschönen Geschwistern der High Society oder einen tapferen, bisher stets pflichtbewussten Polizisten, der sich entscheiden muss, ob er seinen Befehlen gehorcht und einen mysteriösen Narbenmann hinrichtet oder seinem Gewissen folgt.

Gemein ist diesen Geschichten nur, dass sie immer am spannendsten Punkt enden und – was einem als Leser jedoch erst nach und nach auffällt – der Protagonist. Der ist zwar mal ein angesehener Frauenarzt, mal der Kopf einer Firma für Schädlingsbekämpfung, doch stets ist es ein Mann Anfang 50, der sich mit dem Altern schwertut.

Und während ich noch versuchte zu verstehen, was all diese Geschichten gemeinsam haben und wann sie endlich zu einem Ganzen zusammenkommen, beschlich mich   das Gefühl, dass es sich bei dem Autor nicht um einen Trivialliteratur schreibenden Namensvetter des großen Mario Vargas Llosa handelt.

„Tante Julia und der Kunstschreiber“ ist ein Frühwerk des Autors und gefiel mir um Welten besser als seine sicher hochintelligenten, doch leider schwer lesbaren aktuellen Werke. Dabei ist der Roman keineswegs leicht oder gar seicht, bekommt der Leser doch wie in einem Spiegel vorgeführt, wie verführbar wir alle sind, wenn Sex and Crime locken. Und das alles ohne erhobenen Zeigefinger, dafür mit einer Menge Spannung.

Fazit: ein herrliches Buch, das auf sehr hintergründige Weise unser aller Leseverhalten und auch unsere Erwartungshaltung an die jeweilige Lektüre entlarvt. Unbedingt lesenswert.

Ihre Joan Weng

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