42 Tage Putlitz – Bericht eines Stipendiaten

Putlitz, das klingt eher preußisch als poetisch, nach Zackzack und Zitzewitz, Potzblitz und Donner. So fuhr der frisch gekürte Stipendiat an einem verregneten Tag im Mai noch mit etwas gemischten Gefühlen zur Preisverleihung in die Prignitz. Immerhin hatte er die Absicht, 42 Tage dort zu verbringen, um an seinem neuen Roman zu werkeln. 42 Tage können lang werden, wenn das Klima rau ist und die Heimat weit. Nicht nur das Kapital, auch die Kreativität ist scheu wie ein Reh. Ein Turm aus Zeiten der Edlen Herrn zu Putlitz, die einst hier regierten – und von denen der Stipendiat bald einen Nachfahren kennenlernen sollte -, ragte in den bleigrauen Himmel. Die Stepenitz strömte trüb dahin. Später stellte sich heraus, dass es sich um das sauberste Flüsschen Brandenburgs handelte.

„42 Tage Putlitz“ lautete der Titel des Residenzstipendiums, das von der Vereinigung der 42er Autoren ausgeschrieben worden war, auch wenn sich die Stipendiatenunterkunft im drei Kilometer entfernten Mansfeld befindet. Vor dem Putlitzer Stipendium gab es den Putlitzer Preis. Und den gibt es wegen seiner Ähnlichkeit zu einem anderen Preis. Wäre doch witzig, dachte sich der ehemalige Vorsitzende der 42er Autoren, während er auf der Strecke Berlin-Hamburg an der Abfahrt Putlitz vorbeifuhr, wäre doch ziemlich witzig, wenn der Preis der 42er Autoren „Putlitzer Preis“ heißen würde. Und weil der ehemalige Vorsitzende der 42er Autoren eines Tages von der Autobahn abfuhr und die Putlitzer Stadtoberen das ebenfalls witzig fanden, sollte der Stipendiat nun 42 Tage nicht in Putlitz, aber im nahe gelegenen Ortsteil Mansfeld weilen.

Mansfeld, das klingt schon gar nicht mehr so preußisch, sondern nach Landluft und Vieh und Ähren im Sommerwind. Außerdem sei dort Gottfried Benn geboren worden, erfuhr der Stipendiat von verschiedenen Seiten, bevor er zum ersten Mal durch das Dorf rollte und den Namen des Dichters an einem grau verputzten Flachbau sah. Das Licht der Welt hatte Benn in dem wesentlich schöneren Pfarrhaus schräg dahinter erblickt. Zirka vier mal 42 Tage hatte der Neugeborene in Mansfeld verbracht, dann hatte sein Vater eine Pfarrstelle in der Neumark angetreten, doch dass man seiner gedachte und zu diesem Zweck sogar einen Förderkreis ins Leben rief, zeigte dem Stipendiaten, dass Literatur hierorts nicht als gänzlich abwegige Angelegenheit galt.

Die Stipendiatenwohnung befindet sich am Ende des Dorfes. Sie wird vom Schirmherrn des Putlitzer Preises, jenem oben erwähnten Nachfahren des Rittergeschlechts derer zu Putlitz, Gebhard Gans Edler zu Putlitz, zur Verfügung gestellt – ein zur Ferienwohnung umgebauter Wirtschaftstrakt eines Bauernhauses mit Kamin im Wohnzimmer und einem Blick ins Grüne durchs Küchenfenster. Bei der Besichtigung stellte der Stipendiat fest, dass der Ort dem Schreibvorhaben mit Gewissheit zuträglich sein würde. Auch seine während des Stipendiums in der Hauptstadt zurückgelassene Familie würde er hier an den Wochenenden empfangen können.

Bei der anschließenden Preisverleihung in der Putlitzer Nikolaikirche erklärte Gebhard Gans Edler zu Putlitz, dass er Lehrer gewesen sei. Während der Stipendiat noch überlegte, ob ein solcher Name in diesem Beruf wohl von Vorteil sei, wurden von Schülern des ortsnahen Gymnasiums die Siegertexte des Wettbewerbs vorgetragen. Dann bekam der Stipendiat Gelegenheit sich vorzustellen und erklärte, dass im Alltag zwischen Journalismus und Familie oft wenig Zeit bleibe, um ein größeres Erzählwerk kontinuierlich voranzutreiben, deshalb freue er sich auf die ländliche Einsiedelei. Zum Schluss erklang das Putlitz-Lied in Anwesenheit des Komponisten:  „Wo Burgturm und Gans das Wahrzeichen sind / Wo wir zu Haus und gespielt noch als Kind / Wo Menschen noch geben mit Herz und mit Hand

/ Das ist mein Städtchen, Putlitz genannt.“ Von Spargelsuppe und freundlichen Worten gewärmt, trat der Stipendiat den Heimweg an, um vierzehn Tage später zurückzukehren.

Sechs Wochen ohne Internet und Festnetzanschluss lagen nun vor ihm, 42 Tage ohne Baulärm und Hektik, ohne Verpflichtungen und Termine – zumindest fast. Das Stipendium reichte, um den journalistischen Broterwerb einzuschränken, nicht jedoch, um ihn für die gesamte Dauer des Aufenthalts verzichtbar zu machen. Auch das Familienleben erforderte eine gelegentliche Anwesenheit in der Großstadt. Doch zunächst tauchte der Stipendiat ein in die Welt seines begonnenen und viel zu oft unterbrochenen Romans und in die Atmosphäre des für den Schaffensprozess wie geschaffenen Ortes. Morgens wurde er vom Hahnenschrei geweckt, am Nahe gelegenen Weiher lauschte er dem Pirol, ein Kranich stieg in den Himmel auf, bellend sprang ein Rehbock aus dem Gesträuch.

Angenehm unaufdringlich ist diese Landschaft, stellte er fest, taktvoll ließ sie ihm seine Ruhe. buhlte nicht um Aufmerksamkeit, nirgendwo strebte sie in die Höhe oder protzte mit Extravagantem. Sie war einfach da, so wie der Stipendiat da war, seine Gedanken schweifen ließ und seine Sätze aneinanderreihte.

Als Schreibort in der Stipendiatenwohnung hatte er sich den Küchentisch ausgesucht. Wenn er vom Notebookdisplay aufschaute, sah er Obstbäume und Hecken. Eine Sonnenblume wuchs in sein Sichtfeld, erblühte und welkte.

Die Einkäufe in Putlitz erledigte er mit einem geliehenen Damenfahrrad, das praktischerweise über zwei Körbe verfügte. Das Fahren über Alleen unter weit aufgespanntem Himmel bot eine willkommene Abwechselung zur erschöpfenden Schreibtätigkeit. Bald kam Struktur in die Tage, das Schreibpensum wuchs. Die Möglichkeit, sich ungestört und konzentriert mit seinem Stoff auseinanderzusetzen, hat für einen Autor, der es gewohnt ist, sich nicht nur mit den Widerständen des Textes, sondern auch mit den Widrigkeiten des Alltags herumzuplagen, etwas zutiefst Befriedigendes. Gottfried Benn, der in Mansfeld geborene, soll seine Texte teilweise zwischen den Behandlungen in seiner Dermatologiepraxis verfasst haben. Was für luxuriöse Zustände erlebte dagegen der Stipendiat während der Zeit seines Hinausgehobenseins aus den gewohnten Lebenszusammenhängen. Keine ungebetenen Anrufer, keine medialen Ablenkungen, keine vergoogelte Zeit. Für die paar zu verschickenden Mails genügte der Hotspot des iPhones.

Und die Menschen, die Prignitzer? Sind erstmal nicht besonders zahlreich vorhanden. Auf all seinen Fahrten mit dem Linienbus nach Pritzwalk teilte sich der Stipendiat das Gefährt allein mit dem Busfahrer. Eine angenehme Zurückhaltung ist den Leuten zueigen. Niemand überplappert die Diskrepanz. Man redet, was es zu reden gibt, und versucht nicht sinnlos vertraut zu erscheinen. Natürlich tauchten auch ein paar Fragezeichen in den Augen der Einheimischen auf. Die Tätigkeit des Stipendiaten hat keinen Bezug zu den Verhältnissen vor Ort. Wie könnte es anders sein?  Das Wetter und dessen Auswirkungen auf die bevorstehende Ernte sind von Bedeutung, das Problem mit dem Unkraut zwischen den Kieseln, die defekte Abwasserpumpe, nicht die Hirngespinste eines am Küchentisch sitzenden, alimentierten Stadtflüchtlings, der spätestens nach sechs Wochen wieder weg ist. Auch sonst gab es nicht viel zu sagen. Und das war sehr in Ordnung, fand der Stipendiat.

Geräusche gab es genug: Gänse fauchten, Enten und Hühner schnatterten und gackerten, Katzen streiften, Rasenmäher umkreisten das Refugium im Grünen.

Eines Tages erschien ein Reporter vom Märkischen Kurier, setzte sich mit dem Stipendiaten an den Weiher, stellte einige Fragen zu dessen Werdegang, machte sich Notizen und knipste ein paar überbelichtete Bilder. Nach Erscheinen des Artikels wussten die Nachbarn ein bisschen mehr über den Fremdkörper im System. Der Stipendiat versprach, ihnen das entstehende Werk nach Fertigstellung und Publikation zu schicken. Ein paar der bisher verfassten Bücher trug er in die Putlitzer Stadtbibliothek.

Als alle schwarzweißen Ansichtskarten aus den DDR-Beständen des Putlitzer Haus-, Hof- und Gartenbedarfshändlers in der Ernst-Thälmann-Straße verschickt waren, betrachtete er ein letztes Mal die unglaublich violetten Färbungen der ziehenden Wolken am Abendhimmel über Mansfeld, fuhr mit der flachen Hand über die vernarbte Tischplatte seines Arbeitsplatzes unter der Küchenlampe und schloss hinter sich die Tür. 42 Tage waren vorüber.

42 Tage, in denen der Stipendiat zirka einhundert Romanseiten verfasst und wohl mehr zusammenhängende Stunden mit einem literarischen Stoff verbracht hatte als in den letzten dreieinhalb Jahren. 42 Tage, in denen er die Tradition von Mittagsschließzeiten und regelmäßigen Tagesrhythmen schätzen gelernt hatte. 42 Tage,  in denen er anregende Gespräche mit angesiedelten Kollegen geführt, in denen er Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Großzügigkeit erfahren und dem ehemaligen Vorsitzenden der 42er Autoren mehrmals für seinen folgenreichen Humor gedankt hatte (zumindest im Geiste).  42 Tage, die den Stipendiaten gelehrt hatten, dass trüb auch sauber und preußisch auch poetisch sein kann.

Ralph Gerstenberg


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