Graves und die Tränen des Pharao (Kapitel 2)

Cover 1

2.

Es gibt zwei Kategorien von Toten. Die, um die es schade ist und die anderen.

Graves starrte den erschossenen Lord an, mit der Brust über seinen Schreibtisch gesackt. Unmöglich, jetzt noch zu sagen welcher Kategorie er angehört hatte, unmöglich,  in diesem Matsch überhaupt noch menschliche Züge erkennen zu wollen. Aus nächster Nähe durch den Kopf geschossen. „Warst vorher vermutlich auch nicht schöner“ befand Graves, während er seinen – Lady Warringtons Vorschuss sei Dank – wohlgefüllten Flachmann an die Lippen setzte. „Auf dich, alter Junge. Ne trauerende Witwe hinterlässt du ja nicht, aber wer weiß schon, ob das dein Fehler war. Bei den Weibern heutzutage. Unzuverlässige Bande, eine wie die andere.“

Graves dachte an die pflichtvergessene Jo-Anna. Das Biest sollte bloß nicht glauben, dass er sie so einfach zurücknehmen würde. Besonders nicht, wenn er diesen Fall erst gelöst hätte und im Geld schwimmen würde. Dann würde er sich auch so ein schniekes Büro einrichten, wie das, in dem er jetzt stand. Nur mit einer anständigen Bar und einem richtig bequemen Sofa, aber er würde sich verdammt gut überlegen, ob  Jo-Anna in den Genuss dieses Sofas kommen würde. Wenn er diesen Fall nur schon gelöst hätte … Graves gönnte sich noch einen Schluck. Und dann noch einen. Einen großen, denn die Welt war ein schlechter Ort. Ein schlechter Ort voll böser Menschen, die böse Dinge …

Was war das? Da hatte doch eine Tür geschlagen? Der Lautstärke nach die Haustüre. Graves verfluchte sich, sie nicht nach seinem Eintreten blockiert zu haben. Er lernte es auch nie. Und jetzt waren da Schritte. Schnelle, zielbewusste Schritte und sie kamen direkt auf das Büro zu. „Das Schwein fühlt sich sicher, aber dem wird’s vergehen.“ Die Pistole gezogen, presste Graves sich neben der geöffneten Tür an die Wand. Die Schritte wurden langsamer. Nun waren sie schon ganz nah, blieben kurz vor der Schwelle stehen. Jemand hustete einige Male affektiert. Graves wagte nicht zu atmen, jeden Muskel seines Körpers angespannt. Was trieb das Schwein da draußen?                        Wieder wurde gehustet, dann klopfte eine Hand gegen das Holz des Türrahmens.

„Lord Warrington? Lord Warrington sind Sie zugegen?“

Eine Männerstimme, mit leichtem Akzent, kultiviert. Kultiviert und affektiert.Wer sagte denn bitte noch im Ernst ‚zugegen‘. Jo – Anna ist noch Scotch zugegen?

„Darf ich mir erlauben, einzutreten?“ Und mit gesteigerter, aber immer noch lächerlich vornehmer Lautstärke: „Lord Warrington? Lord Warrington, warum antworten Sie nicht?“

„Weil er tot ist, Arschloch!“, brüllte Graves und sprang aus seinem Versteck, die Waffe auf diese Nervensäge gerichtet. Auf den ersten Blick ein Ausländer. Das Jackett streng auf Figur geschnitten, irgendein exotisches Blumenzeugs im Knopfloch. Und als wär das nicht lächerlich genug, Brillanten an der Krawattennadel. Das musste dieser Russki sein, dieser Diamantensammler von dem die heiße Lady gesprochen hatte.

„Flossen hoch!“, fügte Graves noch hinzu. Nur sicherheitshalber, weil dass das Kerlchen harmlos war, dass sah er sofort, dafür war er schon lange genug in diesem Drecksjob. Blass und zitternd stand der Russki in der Tür, schien, jeden Moment zu Boden gehen zu wollen.

„Was willst du hier? Los, rede!“

Graves genoss die Angst in den Augen des anderen, ewig hatte ihn niemand mehr mit solchem Respekt angesehen. Für alle anderen war er nur ein mieser Privatschnüffler, ein Stück Dreck, auf das man herunterblicken konnte, aber jetzt, jetzt war er der Kerl mit der Pistole, Herrscher über Leben und Tod.

„Ich … ich … Geschäfte“, stieß der Russki schließlich hervor. „Ich wollte die Tränen kaufen. Also, die Diamanten. Die Diamanten für meine Sammlung.“

„Okay“, Graves nickte, ließ die Pistole ein wenig sinken. Die Arme wurden ihm schwer. „Und weil der alte Lord nicht verkaufen wollte, haben Sie ihn umlegen lassen und wollten jetzt die Leiche finden. Schon kapiert.“ Graves lachte. So mit gutem Scotch geölt, funktionierte sein Gehirn noch immer einwandfrei. Wenn nur der Scotch sprudelte, dann sprudelten auch die Ideen. „Ich kenn doch so Sammler wie den Alten. Die verkaufen nicht und an nen anderen Sammler schon zweimal nicht. Für die gibt’s doch nichts Schärferes, als das zu haben, was ein anderer will. Ist wie mit den Weibern. Kenn ich von meiner Tippmaus, die wollte vor ein paar Jahren so einen Schmierlappen heiraten, aber da hab‘ ich …“

Graves wollte grade anfangen zu erzählen, wie er die kleine, unschuldige Jo-Anna vor diesem fiesen Weiberhelden und in seine Arme gerettet hatte, aber da ging plötzlich ein Zittern durch das eben noch so interessiert lauschende Gesicht.

„Der Tresor! Da … da… hinten“, stammelte der Russki. Graves lachte nur. Der alte Trick. Dass der nicht schrie „Hinter Ihnen, ein rosa Einhorn!“, war echt alles.

„Lass die Mätzchen.“ Graves klang etwas undeutlich, weil er, um die Pistole nicht aus der Hand legen zu müssen, den Drehverschluss seines Flachmanns mit den Zähnen öffnete. „Was soll mit dem verdammten Tresor sein?“

„Offen! Geöffnet! Leer! Jemand hat die Tränen gestohlen! Meine Diamanten wurden gestohlen!“

Fing der Kerl doch tatsächlich das Flennen an. Da sah man‘s wieder, diese Sammler hatten alle einen Schuss weg. War auch keine Beschäftigung für einen Mann. Mit Diamanten begann es und als nächstes wechselte man täglich seine Seidensöckchen. Graves schauderte, drehte aber etwas den Kopf, um zu sehen, ob der Russki vielleicht doch nicht nur zu tricksen versuchte.

Ja, tatsächlich. Wie konnte ihm das offenstehende Viereck in der Tapetenwand nur bisher entgangen sein?

Vielleicht ließ die seinen Geist stimulierende Wirkung des Scotch schon wieder nach?

Der Flachmann war leer.

Das Ding musste ein Loch haben.

Graves seufzte, begann, die Tresortür zu untersuchen. Also aufgebrochen hatte man die nicht. Wer immer jetzt die Tränen besaß, kannte die Kombination. Das oder der Alte selbst hatte dem Dieb den Safe geöffnet. Das hieß, er hatte seinen Mörder gekannt.

Ja, das war stimmig, stimmig auch damit, dass er aus nächster Nähe erschossen worden war und den Täter wohl in sein Büro gelassen hatte.

Wunderbar, das Täterprofil passte perfekt auf den Russki. Musste er den nur noch verhaften und bei Inspektor Nelson abliefern. Wenn man’s genau betrachtete, war Inspektor Nelson ein feiner Kerl, also zumindest von Frauen und Rennpferden verstand der was, hatte Graves sogar schon den einen oder anderen Tipp gegeben. Er war sicher, Inspektor Nelson würde von seiner Theorie begeistert sein. Graves lächelte, wand sich vom Tresor ab, wollte dem Russki seinen Verdacht erklären, aber der war weg.

Einfach weg!

Eben noch in Tränen aufgelöst und dann einfach so verschwunden. War das eine Art. Und der Flachmann war auch leer. Doch Graves blieb keine Zeit, über den Verlust zu trauern, denn plötzlich polterte es hinter der Wand.  Eine bis dato unsichtbarer Klinke in der Tapete wurde niedergedrückt, die verborgene Tür flog auf, herein stürzte, nein, taumelte eine ihm vertraute Gestalt, sank an seine Brust, sinnlos wimmernd. Graves hielt den schmalen Leib, wie er ihn viele Male schon gehalten hatte. Beruhigendes murmelnd, fuhr er mit der Hand über die blonden Strähnen, bemerkte erst jetzt das Blut, das in ihnen klebte und leise flüsterte er: „Jo-Anna. Jo-Anna, was ist nur passiert?“


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