Weihnachtliche Achtsamkeit
von Joan Weng
Es war die Schuld der schönen Lau, wobei ich das Wort Schuld nicht mag, weil es so wertend ist. Also besser, es lag an der schönen Lau. Es ist im Übrigen eine prächtige Ausgabe der Mörike-Adaption des Nixenstoffes, im Urachhausverlag erschienen und eben in Hochglanzpapier geschlagen.
Der arme Mann muss darauf getreten sein, das Gleichgewicht verloren und einen stolpernden Schritt rückwärts gemacht haben, auf den mit dem Spielgut-Siegel ausgezeichneten Zug aus Echtholz getreten sein, vergeblich versucht haben, sich am pädagogisch wertvollen „Grimm’s Regenbogen“ festzuhalten und dann mit dem Kopf und einem wirklich sehr hässlichen Fluch gegen unseren Wohnzimmertisch geschlagen sein, wo er nun noch immer liegt.
Unser Wohnzimmertisch besteht aus alten, aneinandergeschraubten Weinkisten mit Kanten, die wirklich bemerkenswert hart sind, aber zum Glück nicht spitz – es wäre mir offen gestanden sehr unangenehm, wenn dieser Mensch auf den Schurwollteppich bluten würde. Der Teppich ist biologisch, sodass er auf jeden Reinigungsversuch mit Verfärbung und sehr landwirtschaftlichem Geruch reagiert, was nur beweist, dass es sich um ein Naturprodukt handelt. Ein Schaf auf der Weide schrubbt auch keiner mit Soda und Kernseife!
Und während ich noch drei Atemzüge lang die Dankbarkeit darüber genieße, dass der Fremde keine Flecken hinterlässt, rappelt sich der Mann auch schon wieder auf und starrt mich ärgerlich an.
„Mein Kopf“, klagt der Alte und reibt sich den Schädel.
„Was machen Sie hier?“, frage ich, wobei ich mich bemühe, neutral freundlich zu klingen, denn erstens habe ich den Kerl in meinem Wohnzimmer selbst, mittels fehlgeleiteter Gedanken und unbewusster Ängste, angezogen, und zweitens ist es ein Zeichen von vorurteilsbelastetem Denken, wenn man zu einem nächtlichen Eindringling unfreundlich ist. Nur im Traumschlaf befangene Kleingeister nehmen hier gleich das Schlimmste an.
Es gibt viele vollkommen harmlose Gründe, nachts in anderer Leute Wohnzimmer auszurutschen.
Und da bemerke ich auch die etwas abgetragenen, schwarzen Springerstiefel, die ihn mir gleich sympathisch machen, denn wer ständig neu kauft, verpestet nur die Umwelt.
Dazu trägt der Alte rote Hosen und einen wirklich üppigen Vollbart.
Mir dämmert es!
Zwar hat er – wohl wegen des nassen Wetters – einen Militärparka an und trägt auf dem Kopf keine Zipfelmütze, sondern ein gestricktes, blaues Exemplar, aber ich bin ja nicht dumm!
Es ist der Weihnachtsmann.
Und da sehe ich auch schon seinen Rucksack!
Erst bin ich offen gestanden enttäuscht, dass es kein Jutesack ist, aber anderseits ist so ein Rucksack viel rückenschonender, und man kann schließlich von niemandem verlangen, dass er sich bei der Arbeit vollkommen vermeidbaren, gesundheitlichen Risiken aussetzt.
Genau wie ich volles Verständnis dafür habe, dass der gute Mann erst heute, Anfang Januar nämlich, zu uns gekommen ist.
Ich mag mir den Stress gar nicht ausmalen, all die Haushalte in nur einer Nacht, kein Wunder, dass der Gute so abgezehrt aussieht!
„Bitte entschuldigen Sie, ich habe Sie gar nicht erkannt!“, bitte ich, und der Alte sieht mich aus vor Freude groß aufgerissenen Augen an. „Ich glaube, Sie trinken gerne Kognak, aber so etwas haben wir leider nicht. Eine Mandelmilch und einen veganen Dinkelkeks vielleicht?“
Er sieht mich ratlos an, vielleicht kennt er sich mit friedvoller Ernährung nicht aus?
Erst da bemerke ich, dass er das Fenster aufgebrochen hat – das macht mich sehr betroffen, etwas Zerstören ist nie die richtige Wahl. Aber natürlich möchte ich ihm keinen Vorwurf machen, wir haben nämlich keinen Kamin, durch den er hätte kommen können.
„Lassen Sie mich raten?“, locke ich deshalb freundlich. „Sie sind Teetrinker? Vielleicht einen kleinen Kardamom? Oder eine Tasse Yogi ‚Guten Morgen‘?“
Von draußen erklingt plötzlich Sirenengeheul, und der Weihnachtsmann wird ganz blass. Er ist bestimmt sehr geräuschempfindlich, ein sensibler Geber, der sich für andere aufopfert. Das erkenne ich gleich, und deshalb kann ich ihm nun auch endlich den richtigen Vorschlag machen: „Ich könnte Ihnen auch ein achtsam geschrotetes Kümmelbrot mit VitamR anbieten. Dazu eine Nussmilch mit Kurkuma?“
Die Polizeiautos halten direkt vor unserem Haus, ihre Sirenen heulen sehr laut. Ich kann natürlich verstehen, dass es für die Polizei hin und wieder zwingende Gründe gibt, derartige Geräusche zu produzieren, aber ein bisschen Rücksichtnahme auf einen alten Mann, der sich seit Jahrhunderten im Dienst der Allgemeinheit aufopfert, das ist kaum zu viel verlangt. Nach Steiners Menschenlehre bin ich Cholerikerin mit sanguinen Anteilen, und deshalb gehen manchmal ein bisschen die Pferde mit mir durch. Und kaum habe ich die Tür geöffnet, um diese Polizisten um Ruhe zu bitten, da stürmen die schon an mir vorbei und – Nein, ich lüge nicht! – verhaften den Weihnachtsmann!
Kann man sich das vorstellen? Also da wundert einen doch gar nichts mehr!
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