„Am Ende ist das Wort“

Die ungarische Philosophin Agnes Heller schrieb: „Der Sinn des Lebens ist zu leben. Wir sind in die Welt geworfen, es gibt keine alternative Geschichte.“ Von ihrem eigenen Leben erzählte sie unter dem Titel „Der Affe auf dem Fahrrad“.

In die Welt geworfen waren die meisten der Trümmerkinder. Hungerwinter 1946. Wir sahen nichts anderes als Trümmer und graue Menschen, denen ein Bein, ein Arm fehlte. Wir froren, hatten Hunger. Wir liefen hinter den Panzern her, hinter Soldaten. Wir tobten und lachten. Dass wir in die Welt geworfen waren, spürten wir erst später; erst als wir begriffen, dass wir immer zu funktionieren hatten. Immer.

Leipzig. 1952 flüchteten meine Mutter und ich. Es war nicht auszuhalten. Es begann eine neue  Zeit in Friedrichshafen, am Bodensee, in der Drachenstation. Ein neuer Lebensroman. Der Sinn war zu leben. In der Fremde. Die meisten Schwaben mochten keine Flüchtlinge, gleich woher sie kamen. Aus dem Baltikum, Westpreußen, Ostzone, Polen, Schlesien. Alles ein Pack. Hungerleider. Und dieses Pack konnte nicht nur kein Schwäbisch, sondern war auch nicht katholisch. Protestanten, Alt-Lutheraner, jüdisch. Und dann waren da noch die französischen Soldaten und ihre Familien.

Friedrichshafen war zerbombt. Aber die Schlosskirche am Ende der Uferpromenade stand noch. Und es gab einen aus Afrika heimgekehrten evangelischen Missionspfarrer. So zogen am vierundzwanzigsten Dezember ab vier Uhr alle Fremden, auch die Franzosen, entlang dem See aus der Innenstadt Richtung Seemoos. Der Schnee lag immer hoch. Die Kirche war eiskalt. Wir Kinder waren dick eingepackt und saßen unter dem Tannenbaum am Altar. Der Pfarrer erzählte den Fremden von der afrikanischen Fremde. Viel gesungen wurde in allen möglichen Sprachen. Die Diakonin verteilte Gebäck, in Zeitungspapier eingewickelt. Alle gaben einander die Hand, wünschten sich ein frohes Weihnachtsfest oder Chanukka. Gott segne euch, sagte der Pfarrer noch und gab auch jedem die Hand, dann zogen die Fremden wieder von der Schlosskirche entlang dem See durch die Stadt und verteilten sich. Die Katholiken gingen später in ihre Kirche. Bei den Fremden war die Bescherung um achtzehn Uhr.

All ich größer war,  sang ich im Kirchenchor, saß gerne bei allen Gottesdiensten auf der Empore, aber unvergessen diese ersten Weihnachten am Bodensee, wenn wir zur Kirche liefen, sangen und die Erwachsenen miteinander redeten. Endlich gab es wieder Worte. Auch wenn die Sätze sich meist entlang der Fluchten und der verlorenen Heimat entlang hangelten.

Wie schrieb Hilde Domin:

„Das eigene Wort,

wer holt es zurück,

das lebendige,

eben noch ungesprochene Wort?“

Nein, zurückgeholt werden konnte die verlorene Heimat nicht, nicht die Wörter über das Elend, aber die Schlesier schenkten den Juden eine selbst gemachte Weißwurst. Eine baltische Familie musizierte. Wir lernten singen und neue Wörter. Die Franzosen verteilten warme Maronen und Marmelade. Der Pfarrer verschenkte Äpfel und Nüsse. Und es fanden sich immer mehr Worte. Gesten. Leben. Hilfe.

Ich wünsche ein leuchtendes Chanukka, frohe Weihnachtstage und allen einen fröhlichen Wechsel in das Jahr 2018. Und dass wir Worte finden, die wir nicht zurückholen wollen, sondern gerne und deutlich aussprechen.

Eure/Ihre J. Monika Walther

 

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