Anja liest: „Krabat“ von Otfried Preußler

Alles fängt an in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr: Krabat, ein sorbischer Betteljunge, hat einen seltsamen Traum: Elf Raben sitzen auf einer Stange und schauen ihn an. Ein Platz am linken Ende, das kann Krabat sehen, ist frei. Dann hört er eine heisere Stimme, die seinen Namen ruft: „Komm nach Schwarzkollm in die Mühle, es wird nicht zu deinem Schaden sein!“ Daraufhin erheben sich die Raben von der Stange. „Gehorche der Stimme des Meisters“, krächzen sie. „gehorche ihr!“

Als sich der Traum drei Nächte lang wiederholt, beschließt Krabat, der heiseren, körperlosen Stimme zu folgen. Er findet das Dorf und fragt nach der Mühle. Aber der Alte, der ihm zuerst nur den Weg beschrieben hatte, folgt ihm noch einmal. „Ich möchte dich warnen, Junge. Meide den Koselbruch und die Mühle am Schwarzen Wasser, es ist nicht geheuer dort …“

Doch Krabat schiebt alle Bedenken beiseite, er folgt dem Ruf aus dem Traum – und gerät damit in die Fänge des Bösen. Aber davon merkt er lange Zeit nichts, und wenn ihm Dinge auffallen, die ihm zu denken geben müssten, schiebt er sie als Unfug beiseite. Denn der einstige Betteljunge Krabat hat nun jeden Abend einen warmen Platz zum Schlafen und bekommt reichlich zu essen. Das ist mehr, als er bisher hatte.

Muss man Otfried Preußlers Geschichte vom Müllerburschen Krabat überhaupt noch vorstellen? Das Buch ist nun schon 46 Jahre alt, Generationen Kinder und Erwachsene haben es gelesen, Juroren aus allen Teilen der Welt haben es mit Auszeichnungen versehen, darunter dem Deutschen und dem Europäischen Jugendbuchpreis.

Man muss nicht. Aber man kann. Denn dieses Buch sollte tatsächlich auch noch in zweihundert Jahren gelesen werden. Es wird weder seine Spannung noch den Zauber und erst recht nicht seine Aussagekraft verlieren.

Dieses Buch ist eines der wenigen wirklich zeitlosen. Und es ist eines, das sich auf vielen Ebenen und damit auch in jedem Alter lesen lässt. Kinder werden in dieser zum Roman ausgearbeiteten Sage aus der Oberlausitz zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges in erster Linie eine spannende, zum Teil auch recht unheimliche Geschichte entdecken. Voller Magie und Bildgewalt. Und je älter man wird und je häufiger man das Buch liest (doch, ja, man kann es oft lesen!), umso mehr Ebenen werden sich erschließen. Denn hier geht es um ein sehr grundlegendes und damit zeitloses Thema: Wie verhalten sich Menschen angesichts drohender Gefahren? Oder, um noch einmal Preußler selber zu Wort kommen zu lassen: „Es ist die Geschichte eines jungen Menschen, der sich mit finsteren Mächten einlässt, von denen er fasziniert ist, bis er erkennt, worauf er sich da eingelassen hat.“ Welcher Art diese finsteren Mächte sind, ob es sich dabei um den Satan der Originalsage handelt, den Preußler in Gestalt des Herrn Gevatters sehr real in jeder Neumondnacht auftreten lässt, oder um eine ganz andere Macht, diese Lesart bleibt jedem selbst überlassen. Preußler, Jahrgang 1923, hat seine ganz persönliche: „Es ist zugleich meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation, und es ist die Geschichte aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken.“

Aber der Roman ist eben keine eindimensionale Allegorie auf die NS-Zeit. Nebenbei: Gerade diese Sicht auf das Buch erschließt sich den meisten eigentlich erst, nachdem sie von Preußler mit der Nase direkt darauf gestoßen werden. Ich erwähne diese Interpretation vor allem, um vom „Krabat“ den Stempel „Jugendbuch“ zu entfernen. Das ist es natürlich auch, ein Roman für Kinder ab 12 Jahren. Aber gemein mit der „Kleinen Hexe“ und dem „Räuber Hotzenplotz“ ist ihm nur der schlichte, poetische Stil. Nicht simpel und erst recht nicht flach, sondern tatsächlich einfach, im allerbesten Sinne. Der ehemalige Grundschullehrer Preußler wollte kein Romancier sein und auch kein Philosoph im Gewand des Buchautors. Und erst recht kein Weltverbesserer. Er selber hat sich als „Geschichtenerzähler“ bezeichnet. Als einen, der jedes Wort, jede Silbe solange dreht und wendet, bis er sie genau da hat, wo er sie haben will. Das Ergebnis ist eine klare, einfache Sprache und es sind dichte Bilder, deren Wirkung man sich kaum entziehen kann.

Aber das hier ist eine Buchempfehlung und keine Abhandlung über Otfried Preußlers Poetologie. Deshalb also zurück zum „Krabat“: „Was soll ich dich lehren?“, fragt der Müllermeister Krabat bei seiner Ankunft auf der Mühle. „Das Müllern – oder auch alles andere?“ Und Krabat antwortet: „Das andere auch.“ Der Müller hält ihm seine Hand hin, Krabat schlägt ein. „In dem Augenblick, da sie den Handschlag vollzogen, erhob sich ein dumpfes Rumoren und Toben im Haus. Es schien aus der Tiefe der Erde zu kommen. Der Fußboden schwankte, die Wände fingen zu zittern an, Balken und Pfosten erbebten. Krabat schrie auf, wollte weglaufen: weg, bloß weg von hier! – doch der Meister vertrat ihm den Weg. „Die Mühle!“, rief er, die Hände zum Trichter geformt. „Nun mahlt sie wieder!“

Damit endet das erste Kapitel.

Drei Jahre lebt Krabat mit dem Meister und den anderen Müllerburschen zusammen, er erlebt in dieser Zeit Trauriges und Lustiges. Im klar abgezirkelten Kosmos der Mühle mit ihren zwölf Burschen und dem Meister lernt er das ganze Spektrum menschlichen Verhaltens kennen: Verlässlichkeit, Treue, Verrat, Feigheit, Freundschaft, Charakterstärke … Vor allem ist er fasziniert von dem „anderen“, das ihm der Meister beibringt: der Kunst des Zauberns. Und über diese Faszination wird ihm lange Zeit nicht bewusst, dass er, als er in den Pakt eingewilligte, ein Gefangener der Mühle wurde. Die Freiheit zurückzubekommen hat einen hohen Preis und ist mit enormer Gefahr verbunden. Zu bleiben heißt gleichzeitig, der Verlockung nachzugeben und das Angebot von Macht und Einfluss anzunehmen.

Es gibt Bücher, die mehr sind als „nur“ eine spannende Lektüre. Die im Gedächtnis bleiben. Das hier ist eines von ihnen. Und darum kann man es ruhig alle paar Jahre wieder einmal vorstellen.

Viel Vergnügen bei der Lektüre oder beim Vorlesen

Ihre Anja Stiller

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