Aus dem Schriftstellerleben: Über die Notwendigkeit der Recherche

Sagen Sie mal, Herr Schriftsteller, haben Sie das auch alles erlebt, was Sie da geschrieben haben? Diese Frage bekommen Autorinnen und Autoren nicht selten zu hören. Man will nicht akzeptieren, dass Belletristik der reinen Fantasie entspringt. Aber Sie muss doch wissen, was sie schreibt!, hörte ich einmal eine Dame auf einer Autorenlesung rufen, nachdem die Autorin in der Fragerunde erklärt hat, dass sie noch nie in ihrem Leben im Erzgebirge war, wo die Handlung des Romans teilweise spielt. Eine berechtigte Forderung, nicht wahr? Wer über etwas schreibt, soll es auch kennen. Und viele Autoren wünschen sich das sogar. Insbesondere bei den Krimiautoren ist die Nachfrage nach Erfahrungschancen groß. Es geht nichts über eine gute Recherche. Oder doch: das persönliche Erleben dessen, über das man schreiben will.

Immer ganz nah ran

„Kommen Sie rein, Herr Meierstein. Sie sind ja mal wieder pünktlicher als ein preußischer Beamter.“

„Guten Tag, Frau Sibblinghaus. Ich bin Ihnen ja so dankbar, dass Sie Zeit für mich haben.“

„Keine Ursache. Wenn ich mal jemanden zum Autorencoaching angenommen habe, dann lasse ich mir die Stundenhonorare nicht so leicht entg… <hust> … dann kümmere ich mich auch intensiv um ihn.“

„Kümmern brauche ich heute auch ganz dringend.“

„Na, worum geht es denn?“

„Um Recherche.“

„Recherche? Das hatten wir doch schon. Selbstverständlich müssen Sie recherchieren. Was denken Sie? Dass die Leser dumm sind?

„Nein, natürlich nicht. Es geht auch nicht um die Recherche generell …“

„Um was dann?“

„… sondern darum, wie nah ich heran muss.“

„Ganz klar. So dicht heran, dass Sie meinen, sie sind selbst das Objekt der Recherche.“

„Wie geht das denn?“

„Wenn Sie einen Roman über das Ballett schreiben, dann genügt es nicht, sich mit einer Tänzerin, einem Tänzer oder einem Choreografen mal unterhalten zu haben. Dann müssen Sie Ballettstunden nehmen und selbst auf die Bretter. Planen Sie einen Roman über Bergarbeiter, dann reicht es nicht, Bücher darüber zu lesen und Freund Google zu fragen. Dann müssen Sie selbst ins Bergwerk einfahren und Kohle oder Erz aus der Wand hauen. Spielt ihr Roman im Politikermilieu, dann müssen Sie selbst mindestens Abgeordneter werden, besser noch einen Ministerposten erlangen.“

„Aber, aber … ich meine … dauert unter Umständen die Recherche dann nicht länger als das Schreiben des ganzen Romans?“

„Was soll’s? Wollen Sie erfolgreich sein? Wollen Sie authentisch sein? Wollen Sie Kritiker wie Arm-Kaczinski und Ingrid Kadisch überzeugen? Dann müssen Sie runter, tief runter und ganz dicht dran an ihr Thema, eins mit dem werden, von dem der Roman handeln soll.“

„Ich weiß nicht.“

„Doch! Sie wissen, dass ich recht habe. Über was wollen Sie denn einen Roman schreiben?“

„Über Selbstmord.“

„Na, dann ist doch klar, was sie zu tun haben. Sie können doch nicht über etwas schreiben, was Sie nicht kennen?

Vielleicht bis zum nächsten Beitrag aus dem Schriftstellerleben,

Ihr Horst-Dieter Radke

Teilen: