Ausgegraben: Fritz Reuter – Ut mine Festungstid

„Dat Thermometerkrabbelt ganz suutje ob veertein bet söventein Graad.“ So lautet das Wetter bei Radio Bremen, in den plattdüütschen Nachrichten natürlich. Da wird das hochdeutsche „steigt“ nicht einfach eins zu eins mit dem niederdeutschen „stiegt“ übersetzt, sondern mit dem konkreten, sozusagen körperlich spürbaren „krabbelt ob“. Das Niederdeutsche ist ja keine standardisierte Schriftsprache geworden und hat deshalb auch nicht den Abstraktionsprozess durchgemacht wie unser Standarddeutsch. Darum gibt es im Plattdeutschen zum Beispiel auch keine vergleichbaren Wörter mit der Vorsilbe ent-, die vom konkreten Vorgang abstrahieren. Statt „entwickeln“ heißt es: „sik obdoon“ oder „utklamüstern“, statt „entfernen“: „wegmaken“, „flitsen“ oder „verkrömeln“.

Jetzt stelle man sich mal Romane vor, die von solch sinnlichen Ausdrücken nur so strotzen und überquellen. Gibt es, der Autor ist Fritz Reuter. Er schrieb in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts niederdeutsche Bestseller – die es auch jenseits der Sprach- und Weißwurstgrenze waren – und beeinflusste die nachfolgenden Schriftstellergenerationen. Aber heutzutage braucht man die Gnade einer norddeutschen Geburt und/oder ein Volkshochschuldiplom, um das Niederdeutsche zu bewältigen. Oder man begnügt sich mit einer Übersetzung ins Hochdeutsche, was ja auch nicht ehrenrührig ist. Viele Engländer können auch mit dem Elisabethanischen Englisch nichts mehr anfangen, weshalb sie dazu übergehen, Shakespeares Dramen gleich in einer Übersetzung ins moderne Englisch zu lesen.

Aber eines sollte von vornherein klar sein: Bei der Übersetzung geht viel verloren, besonders die sinnliche Ausdruckskraft des Plattdeutschen, die nur sehr dosiert in die hochdeutsche Fassung hinübergerettet werden kann. Ein Wetterbericht, bei dem das Thermometer „sachte auf 14 bis 17 Grad krabbelt“, wäre keine Übersetzung, sondern ein Joke.

Das Problem hat man denn auch mit dem Schlüsselroman Ut mine Festungstid (erschienen 1862) von Fritz Reuter. Darin erzählt der in Rückblicken erzählende Erzähler von seiner Zeit als Gefangener in preußischen und mecklenburgischen Festungen. Er soll ein demokratisches Lied vom Aufhängen des preußischen Königs gesungen oder zumindest mitgesummt haben, jedenfalls hat er sich im damaligen Berlin verdächtig gemacht, dazu kamen die Karlsbader Beschlüsse, und ehe er sich versah, brummte man ihm wegen Hochverrat die Todesstrafe auf, die jedoch, Preußen konnte auch gnädig sein, auf dreißig Jahre Festungshaft herabgesetzt wurde.

Nu ja, für Reuter und seine Genossen war das Leben in der Festung ein Tod auf Raten, man vertrieb sich die Zeit mit Nichtstun, Saufen und Liebeleien. Auf der Romanoberfläche hört sich das cool und schmunzelig an, besonders wenn man die einzelnen Episoden wie Anekdoten aus dem Erzählganzen herausreißt. Aber im Zusammenhang und in der Tiefe der Erzählung ist es ein erschütternder und moderner Roman, in dem die Zerlegung der Erzählerpersönlichkeit dargestellt wird. Am Ende (1840) wird der Erzähler gebrochen, mit seinem enttäuschten Vater verkracht, alkoholkrank und ohne Lebensperspektive aus der Haft entlassen.

Es gibt allerdings einen Faden, der ihn mit dem Leben und anderen Menschen verbindet: Das Platt. Während die preußischen Offiziere Hochdeutsch sprechen, sprechen die Gefangenen Plattdeutsch. Und nur als der Freund des Erzählers, der Kaptein, einen Lagerkoller hatte und wahnsinnig wurde, fiel er in die Hochsprache zurück. So zeigt sich das Plattdeutsch als eine konkret-sinnliche Sprache, die gegen die skandalösen Zustände in den dauerfeuchten Festungen rebelliert und den Häftlingen einen Lebensraum eröffnet, kurz: als eine Sprache des Widerstands und der Humanität.

Wir müssen also damit leben, dass eine hochdeutsche Übersetzung der Festungstid vieles von der anarchischen Rauheit des Niederdeutschen abschleifen muss. Schnell noch angehängt, dass Reuter seine eigene Version der plattdeutschen Literatursprache aus verschiedenen Regiolekten zusammenkomponiert hat. Folge: Die Konjunktivform Präteritum ist unsicher. „Wäre“ heißt einmal „was“, in späteren Auflagen „wir“. Das kommt davon, dass Niederdeutsch sich zu keiner verbindlichen Standardsprache entwickeln, Pardon: utklamüstern konnte.

Trotzdem ist die Übersetzung der hochdeutschen Aus meiner Festungszeit von Barbara und Friedrich Minssen zu empfehlen. An einer Textstelle soll die Schwierigkeit der Übersetzung gezeigt werden.

Es ist eine meiner Lieblingsstellen aus dem Roman, und die volkstümlichste, von der es auch ein aus Findlingen zusammengewuchtetes Denkmal gibt, in der Nähe von Dömitz. Nach sieben verlorenen oder gestohlenen Jahren steht der vorzeitig begnadigte Erzähler in der mecklenburgischen Sandwüste, weiß weder ein noch aus und lässt dann seinen Hund Schüten den richtigen Weg wählen. In Wirklichkeit hatte Fritz Reuter längst ein Ziel, er wollte einen alten Kumpel besuchen, aus dem in der Zwischenzeit was geworden war: Bürgermeister von Grabow. Also, im Roman steht er an einer Wegkreuzung, mittenmang der Sandkiste, herausgefallen aus der Welt und fragt sich, wie er ins Leben zurückfinden kann.

„’t gaww noch wat – dat fäuhlt ick –, wat mi wedder insetten kunn in de Welt, dat was de Leiw’.“ Bei den Minssens heißt das: „Es gab noch etwas – das fühlte ich –, das mich wieder heimisch werden lassen konnte in der Welt: das war die Liebe.“

Okay, die Liebe ist ein olles Goethethema, aber dadurch wird sie nicht falsch. Der Witz liegt gerade darin, dass im Roman der Hund Schüten das einzige Wesen ist, das ihm, ja, in Liebe zugetan ist. In Wirklichkeit gab es noch die Tochter vom Festungskommandanten in Dömitz, aber die war für einen Loser wie ihn tabu. Also bleibt nur der Hund, der ihn aus der Sandkuhle herausreißt. Notieren: Ich muss noch mal nachfragen, was „Schüten“ genau heißt. Bei uns in der Gegend seggt man „Schieter“, wie etwa bei „Schietwetter“, und das übersetzt sich ja von selbst.

Aber in der Übersetzung des obigen Satzes verliert das Liebesthema an Schärfe. „Heimisch werden lassen konnte“ ist viel länger, umständlicher und abstrakter als „insetten kunn“. Im Original ist die „Leiw’“ das Aktive und Agierende, das den ehemaligen Häftling aus der Isolation herausholt. In Wirklichkeit war es seine Frau Luise, die sein Schreiben ermöglicht hat, indem sie für den Lebensunterhalt gearbeitet, ihn angetrieben und seine Quartalssaufereien und -kotzereien erduldet hat. Ohne Luise keine Festungstid.

O weh. Heißt Liebe jetzt, dass einer sich opfern muss? Luise hatte zumindest etwas vom Erfolg ihres Mannes, ein Leben in einer Villa unter der Wartburg in Eisenach. Und Fritz Reuter wurde zum Franzosenfresser und glühenden Bismarckfan. Kurz: Das Leben ist halt verwickelt, mehr Festung als Paradies. Aber ohne Liebe gäbe es keine Festungstid, und ohne Festungstid keine Stimme, die gegen das Leben als Festung ansnacken würde.

Die Olle-Kamellen-Reihe besteht aus sieben Teilen, die bekanntesten sind neben der Festungstid noch Ut mine Stromtid, die Reuters Lehrjahre als landwirtschaftlicher Praktikant behandeln, in denen er die Folgen der Knastzeit zu überwinden und sich in ein bürgerliches Leben zu integrieren versucht. Was – soll man glücklicherweise sagen? – nicht klappt, sodass er, nachdem ihn sein Vater noch enterbt hat, Schriftsteller wird.

Zum Schluss hier noch mein Übersetzungsvorschlag zum obigen Zitat: „Aber es gab noch was, das fühlte ich, was mich in die Welt wieder zurückholen konnte, und das war die Liebe.“

Ihr

Jürgen Block

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