Bei Hilde im Wald

Einen Spaziergang zu machen, insbesondere bei sonnigem Wetter, ist etwas ganz Normales.  Eine Aufforderung der Art: »Komm mit in den Wald, wir besuchen Hilde«, wird sicher keinem merkwürdig vorkommen. Wenn ich Sie, liebe Blogleser, jetzt ebenfalls einlade, bitte ich, mir einfach zu vertrauen und nicht erschrocken zurückzuweichen, wenn sich vor dem vermeintlichen Wald ein Gittertor befindet und der gerade Weg dahinter zum Krematorium führt. Keine Sorge – wir biegen ja ab. Wir wollen nicht zu einer Kremation, wir wollen, das habe ich schon angekündigt, Hilde einen Besuch abstatten. Vorweg sei bemerkt, um alle Bedenken gleich von Anfang an auszuräumen: Der Bergfriedhof in Heidelberg ist einer der schönsten Friedhöfe Deutschlands. Der Landschaftsarchitekt Johann Christian Metzger (1789-1852) hat die fast 15 Hektar große Friedhofsanlage zwischen 1842 und 1844 geplant und realisiert. Man kann beim Spazierengehen auf diesem Friedhof vergessen, wo man sich befindet. Schauen Sie sich einmal das folgende Foto an. Hätten Sie ohne Hinweis darauf getippt, dass es auf einem Friedhof gemacht wurde?

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Ich höre schon Ihre Frage, wie man auf einem solch großen Friedhof ein bestimmtes Grab findet. Keine Sorge, es gibt Lagepläne – große Tafeln – auf denen die Gräber wichtiger Persönlichkeiten eingezeichnet sind. Die Tafeln sind übersichtlich gestaltet und enthalten auch immer den Punkt, wo dieselbe – und der Betrachter – stehen. Für manche Gräber benötigt man diese Tafeln nicht einmal. Schilder weisen den Weg, so auch den zu Hildes Grab.

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Hilde Domin (1909-2006), in Köln geboren, in der Dominikanischen Republik im Exil und seit 1961 in Heidelberg, ist sicher eine unserer bedeutendsten Lyrikerinnen. Ihr Grabspruch ist selbst ein Gedicht:

Wir setzten den Fuß in die Luft

und sie trug

Sie liegt in der Waldabteilung, zu der man bergan muss. Es ist ein langer Weg, aber kein langweiliger. Verirren kann man sich nur, wenn man penetrant sämtliche Schilder, die zu ihr weisen, ignoriert. Wir sind aber gleich da. Vorher muss ich nur noch die Verszeilen loswerden, die mir gerade wieder eingefallen sind (aus dem Gedicht »Wie wenig nütze ich bin«):

Ich war hier.

Ich gehe vorüber

ohne Spur.

Die Ulmen am Weg

winken mir zu wie ich komme,

grün blau goldener Gruß,

und vergessen mich,

eh ich vorbei bin.

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Wir wollen es aber mit einem Besuch bei Hilde nicht bewenden lassen, zumal es schön und interessant auf diesem Bergfriedhof ist. Es stehen nicht nur einfach Grab an Grab und Grabstein neben Grabstein: Es sind kleine und große Statuen, Kunstwerke, Kitsch, Tempel, Grotten und manch anderes zu finden, von den seltsamen Namen, die hier und dort zu sehen sind, ganz zu schweigen. Die Anlage bietet vielfältige Anregungen für die Augen und auch die anderen Sinne. Unglaublich, was die Vögel sich alles zu erzählen haben.

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Auf dem Weg zur nächsten Dichterin kommen wir am Grab von Max Weber (1864-1920) und seiner Frau Marianne vorbei. Es ist nicht zu übersehen, weil es von einer mächtigen Grabstele, auf der auch die Lebensdaten vermerkt sind, geschmückt ist. Weber gilt heute als Klassiker der Soziologie und ist als solcher durch sein umfangreiches Schrifttum ebenfalls als Schriftsteller zu bewerten. Hier kurz anzuhalten und seiner ein paar Sekunden zu gedenken, kann so verkehrt nicht sein. Die eine wird sich vielleicht weniger positiv an ihn erinnern, der andere mehr – abhängig auch davon, wie anregend die Soziologievorlesungen waren. Niemand wird ihm aber Größe und Bedeutung absprechen können.

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Nun ist es nicht mehr weit bis zum Grab von Irma von Drygalski. Ich höre schon die Fragen: Bitte? Zu wem? Geduld, gleich sind wir da und dann will ich auch sagen, um wen es geht. Ich kannte sie ja auch nicht. Erst als ich ein Jahr zuvor in Heidelberg in einer Kiste an der Straße ein Buch von ihr fand, trat sie für mich mit einem Schatten aus dem Schatten: »Im Schatten des Heiligen Berges – Novellen um Heidelberg«, 1925 erstmals erschienen, 1953 wieder aufgelegt. Novellen um Künstler, die irgendetwas mit Heidelberg zu tun haben: Goethe, Karoline von Günderode, Sophie Brentano, Jean Paul Friedrich Richter, Gottfried Keller. Novellen in einer Sprache, die heute nicht mehr opportun ist, weil schon im Satzbau nachempfunden wird, was damals gedacht und gelebt wurde. Das Nachspüren der damaligen Stimmungen war der Autorin wichtiger als das Einhalten von Spannungsbögen oder moderne Regeln à la »Show don’t tell«, obwohl sie das durchaus tut. Irma von Drygalski entstammte einem alten ostpreußischen Adelsgeschlecht, mit Wurzeln ins Polnische. Die Offizierstochter erhielt eine Schauspiel-Ausbildung und war seit 1919 verheiratet mit dem Heidelberger Historiker, Stadtarchivar und Schriftsteller Herbert Derwein. Es gibt von ihr Romane und Schauspiele, sämtlich aber nur noch antiquarisch zu erhalten. Ihre Heidelberger Novellen haben mir gefallen, auch – oder vielleicht gerade – weil ich das Buch von der Straße aufgelesen habe. Das wollte ich ihr noch eben sagen und deshalb stehen wir jetzt hier.

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Es geht aber schon weiter. Schilder locken zum Grab von Friedrich Ebert. Da gehen wir heute aber nicht hin, lassen den Blick lieber noch etwas schweifen, nach merkwürdigen Namen, nach Statuen und in Stein gehauenen Bildern, nach Gräbern und Monumenten und immer wieder in die Natur, die ablenkt von dem eigentlichen Zweck dieser Anlage. Oder ist es überhaupt »der« eigentliche Zweck?

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Der Heidelberger Bergfriedhof ist einen Ausflug wert. Nicht nur wegen Hilde. Aber wenn man schon mal da ist, kann man ihr auch einen Besuch abstatten. Es ist nicht der schlechteste Weg, den man dort gehen kann.

Ihr Horst-Dieter Radke

P.s.:Zu finden sind auf diesem Friedhof Gräber weiterer interessanter Personen, etwa von Robert Wilhelm Bunsen (1811-1899), Wilhelm Furtwängler (1886-1954), der Bänkelsängerin und Kabarettistin Elsbeth Janda, des Astrologen Michael Roscher (1960-2005), von Albert Speer (1905-1981), Architekt und NS-Reichsminister, der Revolutionär Gustav Adolph Schlöffel (1828-1849), Johann Heinrich Voß (1751-1826), des Astronomen Max Wolf (1863-1932).

Hilde Domin: Sämtliche Gedichte, S. Fischer Verlag, Frankfurt, ISBN-13 978-3100153418

 

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2 Gedanken zu „Bei Hilde im Wald“

  1. Vielen Dank für die interessante Reise durch die Heidelberger Friedhofswelt und die Literatur. Ich fühle mich vage an den Johannisfriedhof in meiner Heimatstadt Leipzig erinnert. Auch hier gibt’s Anleihen an die Bücherwelt: mit den Grabstätten der Brockhaus-Verlegerfamilie und von Anton Philipp Reclam 😉

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