Berliner Winter

Über Jahreszeiten habe ich nicht viel zu sagen. Ich mag den Frühling, vor allem das frische, zarte Grün der Bäume versetzt mich jedes Jahr aufs Neue ins Staunen. Sommer ist meine liebste Jahreszeit, ich bin draußen, wann immer es geht und beschwere mich nie darüber, dass es zu heiß ist. Und sogar den Herbst, zumindest die erste Hälfte mag ich. Nie leuchten die Tage wie im September und Oktober.

Nur über den Winter habe ich ein bisschen mehr zu sagen. Aber nichts Gutes. Ich bin entschuldigt, es ist erblich bedingt: Schon mein Vater hatte bei Schnee grundsätzlich grauenvolle Laune und es war ihm unangenehm, mir diese Winterabneigung vererbt zu haben. In meinen Zwanzigern war das für mich eine großartige Ausrede, als ich von November bis Februar immer nahe an der Depression lebte. In meinen Dreißigern bekam ich das einigermaßen in den Griff, auch, weil ich in jenen Jahren in Köln lebte, einer Stadt, die nicht weiß, was ein echter Winter ist, mit ihrem Einmal-Schnee-pro-Jahr und oft frühlingshaftem Februar. Dann beging ich – wintertechnisch gesehen – den Fehler, nach Berlin zu ziehen. Seither ist meine Winterphobie richtig schlimm geworden. Zwar liegt der letzte wirklich kalte Winter schon zehn Jahre zurück, aber die Erinnerung daran hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, pardon, eingefroren. In der Silvesternacht 2009/2010 fiel Schnee, der bis Ende März bei Temperaturen um die zehn Grad minus liegenblieb. Auf Straßen und Wegen verwandelte sich der Schnee in Matsch, wenn Autos dort entlangfuhren oder zu viele Menschen darüber latschten. Nachts fror der dreckige Matsch wieder und mit vor Kälte hochgezogenen Schultern schlitterten wir durch drei Monate Winter. Die Notaufnahmen waren wegen Knochenbrüchen ständig überfüllt. Und als es Ende März endlich taute, war die Stadt vom Silvesterdreck übersät, der im Eis ausgeharrt hatte. Nein, darauf hätte ich verzichten können. Aber auch ohne Schnee und sibirische Kälte sind die Berliner Winter unerträglich. Meist haben wir so ein bis zwei Grad und viel Regen. Da sehne ich mich manchmal nach Schnee, der die Stadt wenigstens etwas heller und stiller machen würde. Stattdessen hängen dunkelgraue Regenwolken ständig so tief, dass die Kugel des Fernsehturms in ihnen verschwindet. Und das nicht stunden- oder tageweise, nein, wochenlang bleibt das so.

Jedes Jahr bis Oktober glaube ich daran, dass das Universum meinen Wunsch erhören und den Winter in diesem Jahr ausfallen lassen wird. Wenn ich mich Anfang November von dieser Illusion verabschieden muss, nehme ich mir fest vor, ganz tapfer zu sein. Ich sage mir: „Gut, es ist Winter. Es wird kalt, es wird grau, aber ich werde es aushalten. Ich mache es mir mit viel Tee und vielen Büchern gemütlich. Und es wird irgendwann ein Ende haben.“

So ertrage ich den November. Irgendwie. Im Dezember rede ich mir ein, Weihnachtsmärkte, Glühwein und Kerzen seien ein irgendwie akzeptabler Ersatz für Sonne und lange Abende draußen im T-Shirt.

Spätestens im Januar jedoch ist es mit meiner Tapferkeit vorbei. Ich leide. Ich kann nicht glauben, dass es je wieder hell und warm wird. Das einzige, was dann noch gegen die Depression hilft, ist ein Flug in ein Land, das keinen Winter kennt. In diesem Sinne: Wünschen Sie mir, dass die Reisewarnungen für die afrikanischen Länder bald aufgehoben werden, damit ich mich im nächsten Februar nicht aus dem Fenster stürzen muss. Danke.

Ihre
Dorrit Bartel

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