Big Apple für Anfänger

25 Grad im Schatten.

Ich mache mir einen Eiskaffee und lümmele mich damit auf meinen Liegestuhl im Garten. Versonnen betrachte ich das Spiel der Sonne mit den Eichenblättern direkt über mir und genieße den Augenblick. Corona ist blöd, aber Urlaub Zuhause hat auch was. Kein Kampf um die Liegen am Pool, kein Gedränge vor irgendwelchen Museen, kein stickiges Restaurant mit unfreundlichen Kellnern.

Stattdessen trinke ich einen Schluck von meinem Eiskaffee und greife nach dem Laptop, der neben mir liegt. Heute werde ich virtuell auf Reisen gehen. Nichts Neues für mich, denn dank Internet mache ich so schon mal einen ganz spontanen Ausflug auf die Ostfriesischen Inseln oder einen Städtetrip nach Florenz. Träume mich in ein kleines Café am Montmartre oder in die flachen Steppen der Mongolei. Auch New York wäre eine Reise wert.

Sofort fällt mir der große Hit von Udo Jürgens ein, in dem ein junger Mann darüber nachdenkt, aus seinen Alltagszwängen auszubrechen und frei und unbeschwert die Welt zu bereisen. Mich macht dieses Lied immer ein wenig melancholisch. Nicht, weil ich aus meinem Leben ausbrechen möchte, aber – hey, New York!

Ich inhaliere mit Vorliebe Romane, die an der amerikanischen Ostküste spielen, insbesondere Maine, Vermont, Boston oder New York, bin dort auch oft im Internet unterwegs, um mir entsprechende Bilder anzuschauen. Aber heute ist mir nicht nach sturmumtosten Klippen oder endlosen Wäldern im Indian Summer. Heute darf es gern die Großstadt sein, die seit Jahrhunderten die Menschen in ihren Bann zieht. Multikulti, bunt, laut und immer busy – New York.

Ein guter Start in den Tag ist eine Fahrt mit der Fähre. Ich stehe an der Reling des Oberdecks, genieße den Sonnenschein, die kräftige Brise während der Fahrt durch die Upper Bay. Immer höher ragt Lady Liberty vor mir und ich spüre mich schier überwältigt von ihrer Ausstrahlung. Wie muss dieser Moment erst für unzählige Auswanderer gewesen sein, wenn sie nach wochenlanger Überfahrt endlich das ersehnte Ziel vor Augen hatten? Welch imposante Begrüßung, verbunden mit der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Doch New York wäre nicht New York, wenn es mich nicht gleich zu meinem nächsten Ziel treiben würde: Es geht auf den Broadway. Mir steht der Sinn nach Leichtigkeit und Zerstreuung. Da ich es liebe, mich in früheren Zeiten zu verlieren, ist der Besuch des Lyceum Theatre ein absolutes Muss. Das älteste, durchgängig bespielte Theater versprüht nach wie vor das Flair des vorigen Jahrhunderts. In meinen Gedanken tanze ich während der Goldenen Zwanziger gemeinsam mit Fred Astaire und seiner Schwester Adele über die Bühne, sonne mich im Applaus des mondänen Publikums.

Ein wenig atemlos aber glücklich mache ich einen kurzen Abstecher ins Ritz-Carlton und genieße die Teatime in der Star-Lounge. Entspanne mich in einem dick gepolsterten Cocktailsessel und betrachte ausgiebig die gut betuchte New Yorker Gesellschaft um mich herum, während ein Kellner Köstlichkeiten serviert. Zu einem klassischen Earl Grey beginne ich mit Scones mit clotted cream und fruchtiger Erdbeermarmelade, probiere pikante Sandwiches und genieße zum Abschluss die Petit Fours.

Rundum zufrieden nach all den Kalorien geht es hinüber auf die andere Straßenseite in den Central Park. Spielende Kinder, Spaziergänger, Fahrradfahrer und Jogger jeglichen Alters transportieren dort die bunte Vielfalt der Stadt unter die ausladenden Laubdächer alter Bäume. Schnell vergesse ich, dass ich mich inmitten einer Millionenmetropole befinde, setze mich auf eine Bank, atme tief durch und erfreue mich am schlichten Sein.

Für den Abend erfülle ich mir noch einen ganz besonderen Wunsch: Eine Foodtour durch Nolita – North of Little Italy – im Herzen Manhattans. Ein ehemaliger Einwandererbezirk, in dem auch große Teile des Films „Der Pate“ gedreht wurden. Egal ob italienisch, französisch, mexikanisch oder amerikanisch, ich kann probieren, worauf mir gerade der Sinn steht, tauche ein in die Atmosphäre pittoresker Läden und hipper Galerien.

Der Abschluss des Tages steht dann noch einmal ganz im Zeichen der großen Gefühle: Ein Besuch der Brooklyn Bridge bei Nacht. Was für eine gigantische Kulisse für mein Schriftstellerherz, wenn ich die leuchtenden Fenster der gegenüberliegenden New Yorker Skyline betrachte und mir dabei ausmale, wer sich wohl im Einzelnen hinter den unzähligen Fenstern verbirgt. Wie viele Geschichten könnte ich erzählen!

Mit einem bedauernden Seufzer klappe ich schließlich den Laptop zu und spüre den vielen Eindrücken nach, die ich von dieser Reise mitnehme. Eindrücke, die mich beglücken und erfüllen, und doch gleichzeitig meine Sehnsucht steigern. Ich war noch niemals in New York.

Ihre
Cordula Gravensteiner

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