Es wird gerne gesagt, dass Bilder Geschichten erzählen. Erlebt hat das sicher schon jeder, wenn er vor einem Bild stand, das ihn zu Erinnerungen oder Assoziationen anregte. Wie wäre es denn, so etwas einmal aufzuschreiben? Möglichst nachdem der innere Zensor mal eben unterwegs ist, Zigaretten holen oder radikaler: eingeschlossen im Keller. Das ist eine gute Kreativitätsübung und nach einer Weile hat sich Fundus an Material angesammelt, an dem sich vielleicht weiterzuarbeiten lohnt.
So gehe ich vor:
- Ein Bild wählen, an dem ich sowieso schon hängen geblieben bin. Ich nehme mir solche Bilder gerne aus Museen mit (soweit Fotografieren erlaubt ist). Mit dem Smartphone ist das heutzutage keine große Sache mehr. Wenn man ein wenig Acht gibt auf Spiegelungen und Schatten, hat man das Bild zum nachträglichen Betrachten sogar in guter Qualität mitgenommen ohne es zu stehlen. Zum Ausgleich von Verzerrungen und Schiefe gibt es diverse Apps und Tools. Ich kann es dann zu Hause beliebig oft und lange anschauen und meinen Gedanken nachhängen – sie schließlich aufschreiben. Oder auch schon direkt im Museum, falls ich Notizbuch und Stift dabeihabe.
- Beim Aufschreiben setze ich mir keine Vorgaben. Interessiert mich das Bild, hat es meine Aufmerksamkeit gefesselt, kommt die Geschichte von ganz allein. Immer! Kommen Einwände, ist der „innere Zensor“ nicht gut genug weggesperrt. Ich beginne immer mit einem Wort, vielleicht einem Satz und allermeistens ohne Plan. Die Geschichte entwickelt sich von selbst. Wer es nicht glaubt, sollte es einfach ausprobieren.
- Ich höre auf, wenn der Schreibfluss stockt. Meistens ist die Geschichte dann auch fertig. Vielleicht nur eine halbe Seite lang, aber doch eben eine Geschichte, so kurios oder skurril sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Ein anderer Blick ist auch nicht erlaubt.
- Habe ich einen Plan – manchmal ergibt sich beim Betrachten eines Bildes, dass die Geschichte geschlossen und vollständig vor mir steht –, dann kann ich mir Zeit lassen. Das spontane Anfangen ohne weitere Vorgaben ist aber trotzdem wichtig. So weit schreiben, wie der Schreibfluss reicht. Später dann, vielleicht erst am nächsten Tag, nach erneutem Betrachten des Bildes weiterschreiben. Die Geschichte wird fertig, immer. Ich habe auch schon erlebt, dass sich die Geschichte von Tag zu Tag gewandelt hat. Das ist ebenfalls ein spannender Prozess. Lasse ich mich darauf ein, bricht schon die Erwartung, was noch alles passieren könnte, die Kreativität auf und gibt mir mehr Freiheit. Auf diese Weise sind einige Märchen entstanden.
- Ich überarbeite nur im Detail. Der erste Fluss hat oft noch Ecken und Kanten. Die erlaube ich mir zu glätten. Umschreiben werde ich eine auf diese Weise geschriebenen Geschichte nicht, so merkwürdig sie mir auch vorkommen mag. Vielleicht brauche ich später einen Text für eine andere Arbeit, für eine Ausschreibung, an der ich teilnehmen will, oder als Einschub in einen Roman. Dann sind Anpassungen erlaubt und deutliche Überarbeitungen meist auch zwingend notwendig. Ich behalte jedoch immer die ursprüngliche Fassung, um mich immer wieder davon zu überzeugen, wie sie entstanden ist. Manchmal erfahre ich dabei irgendwann etwas über mich, was sonst unerklärt geblieben wäre.
Beispiele
Im Museum Arnhem sah ich ein Bild von Carel Willink (1900–1983), auf dem eine Frau mit ernsten Zügen, strengem Blick, mit zurückgekämmten Haaren, von denen die Spitze in die Stirn hineinragt, und mit einem mächtigen Kater im Arm den Betrachter anblickt. Nach längerem Betrachten entwickelte sich daraus für mich folgende Geschichte:
#7:
Ich weiß noch, wie sie mich mit ihrem strengen Blick prüfte. Lange. Alle Hoffnung schwand dahin, und gerade wollte ich mich abwenden und still davon gehen, da nickte sie und sagte „Komm!“. Ein Glücksgefühl durchströmte mich heiß, und den Blick des schwarz-grau-weißen Katers, den sie im Arm hielt, der mir wie eine Warnung schien, deutete ich als den Rest der Hoffnungslosigkeit, die ich noch soeben verspürt hatte. Und schnurrte er nicht, unter ihren leichten Liebkosungen? Ich wischte den Schatten, der sich zwischen uns schieben wollte, mutig beiseite und ging, im Abstand von drei Schritten, hinter ihr her. Dieser Abstand blieb. Immer. Tagsüber, wenn ich ihren Anweisungen folgte, ihre Wünsche erfüllte. Jedes Mal in der Hoffnung, einen dankbaren Blick, einen lohnenden Zuspruch zu bekommen. Doch sie prüfte nur und nickte kurz ab, wenn sie zufrieden war, was selten vorkam. Meistens schüttelte sie nur den Kopf und strafte mich mit einer verächtlichen Zurückhaltung. Meine Anstrengungen wuchsen darunter. Wenn sie mich dann und wann nachts zu sich rief, war es nicht anders. Ich hatte ihr zu folgen, und wehe, meine Leistungen entsprachen nicht ihren Erwartungen – ihr Blick war wie die Verbannung zum Nordpol. Eines Tages fragte sie mich: „Willst Du für immer bei mir bleiben?“ Ich erschrak. War das nicht sowieso klar? Dass es sich bisher nur um eine Art Probezeit handeln könnte, hatte ich nie angenommen. „Ja“, stammelte ich. „Ganz gewiss. Ich erstrebe nichts anderes.“ Sie hielt mir ein Glas mit einer grünen Flüssigkeit hin: „Dann trink dies.“ Schnell nahm ich ihr das Glas aus der Hand und trank es in einem Zug leer. Es schmeckte scheußlich, brannte in der Kehle und hatte im Abgang eine Anmutung von Urin und Katzenkot. Aber das war mir egal. Wenn ich dafür bei ihr bleiben dürfte – für immer – war dies auszuhalten, war es die kleinste Mühe. Ich wollte auf sie zugehen, knickte jedoch ein und wäre zu Boden gefallen, wenn sie mich nicht gehalten und zu ihrer Chaiselongue geführt hätte. „Leg dich hin und ruh dichaus“, sagte sie und streichelte meine Wangen. Das hatte sie noch nie getan. Voller Glück versank ich in einen tiefen Schlaf. Als ich nach Ewigkeiten wieder aufwachte, spürte ich ihre Hand liebkosend in meinem Nacken. „Das ist schön“, wollte ich sagen, konnte es jedoch nur zu einem Schnurren bringen. Ich öffnete die Augen und sah sie lächelnd über mir. Dann schaute ich an mir herab und erkannte, dass ich ein braun-weiß gefleckter Kater geworden war, den sie nun auf den Arm nahm. „Wir wollen den neuen Gast empfangen“, sagte sie. „Sei brav, wenn du bleiben willst.“ Dann trat sie mit mir im Arm einem Jüngling entgegen, der sie sehnsuchtsvoll ansah.
Gerne schreibe ich auch Bilder zu Fotos, die ich mache. Dabei entstehen solche Geschichten bei mir oft zu solchen Bildern, die gar nichts Besonderes zeigen, bei denen aber ein kleines Detail nach längerem Betrachten etwas auslöst. Als Beispiel die folgende Geschichte mit Foto:
#11
Ich stand am Strand. Am Himmel zogen drohend Wolken auf. Das Meer wurde unruhig, und erste Wellen brachen mit Schaumkronen auf. Die Menschen, die über den Steg gingen, der ins Meer reichte, wurden jedoch nicht weniger. Warum hatte man diesen Steg gebaut? Er reichte weit hinein ins Meer, kaum konnte ich das Ende erkennen. Und dann fiel mir auf, dass alle immer nur in einer Richtung gingen. Niemand kam zurück. Unruhig beobachtete ich die Menschen auf dem Steg noch einige Minuten, dann ging ich selbst. Ich musste wissen, was dort los war. Gab es dort ein Schiff, das alle bestiegen, das ich vom Strand aus nicht sehen konnte? Ich reihte mich ein und marschierte mit. Gespräche, die ich beginnen wollte, versiegten bald, denn alle waren einsilbig, gaben kurze Antworten oder keine. Die Hälfte hatte ich schon zurückgelegt, da konnte ich erkennen, was am Ende des Steges passierte. Die Menschen gingen einfach darüber hinaus – und verschwanden. Panik ergriff mich, ich wollte umkehren. Aber es ging nicht! Ich klammerte mich an das Geländer – doch meine Füße wollten voran, und meine Hände lösten sich ohne meinen Willen. Schritt für Schritt ging ich dem Ende des Steges entgegen. Näher und näher kam der Punkt, an dem die Menschen über den Steg hinausgingen – drei Schritte –, durchsichtig wurden oder verblassten und dann verschwanden. Bei diesem und jenen meinte ich, ein Widerstreben erkennen zu können. Einer warf sich zu Boden, als er am Ende angekommen war, schrie, strampelte und verweigerte das Weitergehen. Doch er wurde über den Steg hinausgezogen, und es erging ihm wie allen. Ergeben tat ich meine letzten Schritte, war sogar beglückt darüber, als mich scheinbar die Luft trug, besah meine Hände, wie sie durchscheinend wurden, und …
Das zugehörige Foto entstand auf Usedom an der Ostsee.
Man muss allerdings aufpassen. Das Schreiben solcher Geschichten zu Bildern kann zur Sucht werden. Ich wünsche ihnen viel Freude bei Ihren eigenen Bildergeschichten.
Ihr
Horst-Dieter Radke
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