Bogenhausener Friedhofsgespräche

Ich stieg bei der Münchener Freiheit in den Bus 54 Richtung Lorettoplatz, verließ ihn wenige Stationen später an der Hirschauer Straße, überquerte die Isar und bog in die Neuberghauser Straße ein. Sie führte, überschattet von Bäumen, die bereits Herbstlaub trugen und abwarfen, in einem Linksbogen aufwärts, bis ich linker Hand die Kirche schon über die Friedhofsmauern ragen sah. Ich war nicht allein zu diesem Friedhof unterwegs. Von allen Seiten fanden sich schwarzgekleidete Männer und Frauen ein, manche mit Blumen in den Händen, und durchschritten das Tor. Kurz hinter dem Tor blieb ich stehen und überlegte, ob ausgerechnet heute einen Rundgang mit Fotoapparat angemessen sei oder ich mich besser zurückziehen sollte. Da zupfte mich jemand am Anorak. Ich schaute nach rechts und sah einen Mann, großgewachsen, im 1970er Jahre Trenchcoat, zurückgekämmtes Haar mit ausgeprägten Geheimratsecken. »Kommen Sie«, flüsterte er. »Hier herüber«. Ich folgte ihm und blieb ein paar Schritte weiter stehen, denn die Mauer begrenzte das Weitergehen zumindest in dieser Richtung. Auch der Mann war stehen geblieben. Wir sahen beide stumm zu, wie nach und nach mehr Trauergäste kamen und in der Kirche verschwanden.

»Vielleicht ist es besser, wenn ich wieder gehe und ein anderes Mal zum Fotografieren komme«, sagte ich.

»Ach was«, antwortete der Mann. »Das stört hier keinen. Die meisten kennen das und sind es gewohnt. Fotografieren Sie ruhig, sonst ist hier ja selten etwas los.«

Ich schaute ihn skeptisch an.

»Ich muss das wissen«, sagte er, »ich wohne hier schon lange.«

Er blickte zu dem Grab hinab, neben dem wir standen. Nun schaute ich es mir näher an.

IMG_0231

 

»Verzeihen Sie, Herr Kästner«, sagte ich, »Ich habe Sie nicht gleich erkannt.«

»Macht nichts. Es ist eher angenehm, wenn man nicht ständig angesprochen wird. Aber heute ist mir nach einem kleinen Schwätzchen zumute. Ist immer ein wenig unruhig, wenn ein Neuzugang kommt. Dann stehen wir schon mal draußen und nehmen Anteil.«

Ich schaute über den Friedhof, soweit ich blicken konnte und sah tatsächlich hier und dort Schatten stehen oder sich auf die Kirche zu bewegen.

»Aber nicht alle?«, fragte ich. »Dafür sind es dann doch zu wenig. Wenn ich hier die Gräber so überschaue …«

»Nein«, sagte er. »Luieselotte bleibt dem Trubel auch lieber fern. Sie hockt dann meistens mit Annette zusammen und die beiden klagen, dass man hier seine Ruhe nicht hat.«

Luieselotte Enderle, eine seiner Lebensgefährtinnen, lag ebenfalls in dem prächtig zum 40. Todestag im Juli diesen Jahres mit Blumen ausgestatteten Grab. Schade, dass sie sich nicht zeigte. Ich hätte sie gerne gefragte, wie ihr die Mutter von Luise und Lotte im doppelten Lottchen gefallen hatte.

Erich Kästner war ein paar Schritte weitergegangen und vor dem Grab von Annette Kolb stehen geblieben. Ihr Grab war weniger prächtig ausstaffiert, aber ebenfalls gepflegt. Flächig wuchs Buchsbaum über das Grab. Im oberen Drittel ragte eine Schale mit Heidekraut hervor.

 

IMG_0232

 

»Schade«, sagte ich. »Frau Kolb hätte ich auch gern einmal kennen gelernt. Vielleicht ein anderes Mal.«

Kästner nickte. »Sie haben nicht zufällig etwas zu trinken dabei? Oder eine Zigarette?«

Bedauernd schüttelte ich den Kopf. »Nichtraucher. Und zu trinken nur eine Flasche Wasser. Wenn Sie möchten …«

»Lassen Sie nur. Rauchen ist sowieso nicht gesund. Soll sogar tödlich sein. Schreibt man ja neuerdings auf die Schachteln. Und genau genommen ist uns das Rauchen und Trinken gar nicht mehr möglich. Aber manchmal wäre schon eine Ahnung davon ein wenig Erlösung.«

»Nächstes Mal denke ich dran. Nicht an Zigaretten – aber etwas zu trinken, das geht schon. Was wäre Ihnen denn recht? Kognak?«

»Ja, ein mittelprächtiger Kognak wäre nicht schlecht.«

Man sah es ihm an: Er freute sich. Allein die Erinnerung machte ihn froh

»Ich geh jetzt mal zurück. Zu weit kann ich mich nicht entfernen. Luieselotte wird schnell unruhig, wenn ich zu lange weg bin.«

»Hat mich gefreut, Herr Kästner«, sagte ich, aber da hatte er sich schon abgewandt und ging fort. Er hob noch kurz die Hand, drehte sich aber nicht mehr um.

Es waren nicht mehr viele, die an oder hinter den Gräbern standen. Manche Schatten verschwanden beim Näherkommen, andere kannte ich nicht und grüßte nur kurz. Selten nickte einer zurück. Am Grab von Bernd Eichinger war alles ruhig. Vermutlich ist der froh, dass er endlich mal seine Ruhe hat. Bei seiner Beerdigung sollen mehr als 900 Gäste anwesend gewesen sein. Sicher wird er erst hervorkommen, wenn alle Trauergäste sich verzogen haben, um dann den Neuzugang zu begutachten. Ebenso war es beim Grab von Peter de Mendelsohn und Helmut Fischer. Gerne hätte ich mit Monaco Franze ein paar Worte gewechselt, aber man kann nicht alles haben. Am Grab von Hans Knappertsbusch hielt ich inne. Irrte ich mich, oder hörte ich da leise Musik aus dem Grab? Oder kam die aus der Kirche? Nachdenklich setzte ich meine Runde durch die rund um die Kirche angelegten Gräber fort. Wieder am Tor angelangt, sprach mich jemand an.

»Amerikaner?«

»Wie?«

»Ob Sie Amerikaner sind?« Es klang ungehalten.

»Nein, nein. Ganz gewöhnlicher Deutscher«, sagte ich. »Aber fragen Sie ruhig auf Englisch, ein bisschen radebrechen kann ich schon.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich hasse diese Amerikaner. Überall mischen sie sich ein und nirgendwo kommt etwas Gutes heraus. Halleluja – rufen sie, und was folgt ist die Atombombe. Wenn die nicht, dann die Wasserstoffbombe. Und wenn die auch nicht, dann etwas Schlimmeres, zum Beispiel amerikanische Finanzexperten.«

»Sie sind ja nicht gerade gut auf die Amerikaner zu sprechen«, sagte ich.

»Beileibe nicht. Aber die auf mich auch nicht. Damals nicht und heute nicht und …« Er schaute weg.

»Und?«, fragte ich, neugierig geworden.

»Und die anderen auch nicht. Hier werde ich von den meisten geschnitten. Der Kästner, mit dem Sie sich eben unterhalten haben geht ja noch, der lässt sich manchmal zu einer Fachsimpelei über Lessing oder die Lyrik des frühen zwanzigsten Jahrhunderts mit mir herab.«

Jetzt schaute ich mir den Mann näher an, erkannte ihn aber nicht. Dann sah ich auf das Grab dahinter.

 

IMG_0243

 

»Herr Fernau?«

»Zu Diensten!«, antwortete er.

»Da müssen Sie sich nicht wundern, wenn einige nicht gut auf sie zu sprechen sind. Wer Hitler als den letzten deutschen Romantiker entschuldigt, der darf ja wohl noch kritisiert werden.«

»Das Kritisieren würde ich mir ja noch gefallen lassen. Aber dieses totale Schneiden und Ausgrenzen …«

»Und ihr Amerikabuch ist auch das reinste Machwerk«, antwortete ich.

»Ist’s denn nicht wahr, was ich geschrieben habe?«, begehrte er auf.

»Um es mal vorsichtig zu sagen: Es ist garantiert nicht die ganze Wahrheit. Und wenn man die Wahrheit beschneidet, dann korrumpiert man sie. Ein objektives Buch ist es jedenfalls nicht«, sagte ich unnachgiebig. »Ganz anders als ihr Buch über die Griechen. Das liebe ich heute noch und deshalb bin ich für den Rest ein wenig nachsichtig.«

»Dankeschön«, sagte er. »Das ist schon mehr, als der da hinten zu bieten hat. Der ist ja so was von uneinsichtig.«

Ich drehte mich um. Drei Grabreihen weiter stand neben einem rotbelaubten Busch, der einen Grabstein – einem Findling ähnlich – beschattete, ein eher kleiner Mann, mit schwarzen, fettigen Haaren, von dem ihm einige Strähnen in die Stirn hingen. Sein Gesicht war breit und er blickte verächtlich auf Fernau und mich.

»Herr Fassbinder …«, rief ich. »Schön, dass ich Sie treffe.«

 

IMG_0241

 

Schon wollte ich zu ihm hinüber eilen, da winkte er ab, machte eine Geste, als würfe er eine halbgerauchte Zigarette zu Boden, drehte sich um und … verschwand. Fernau hinter mir lachte. »So ist er. Er redet nicht mit mir, und auch nicht mit jemandem, der mit mir spricht. Bei dem haben Sie verschissen.«

Was sollte ich machen? Am Besten gehen. Fürs nächste Mal wüsste ich ja Bescheid, welches Grab ich zuerst ansteuern müsste.

»Wiedersehen, Herr Fernau. Machen Sie’s gut … oder nein, machen Sie’s besser.«, lachte ich.

»Na hören Sie mal, junger Mann …«

Junger Mann – der war gut. Aber aus seiner Sicht war ich immerhin fast ein halbes Jahrhundert jünger als er.

»Ich behalte Sie in Erinnerung«, rief ich, schon beim Tor, zurück. »für die Griechen.«

»Und für Sappho?«, fragte er.

»Meinetwegen auch für Sappho«, sagte ich, war dann aber auch schon aus dem Tor heraus, bog nach links ab, um nicht den gleichen Weg zurück zu gehen. Wenige Schritte hinter dem Friedhof fiel mir ein, dass ich das Grab von Oskar Maria Graf nicht gefunden hatte. Man sollte bei einem Friedhofsbesuch auch nicht so viel reden. Zurückgehen wollte ich aber nicht mehr. Ich würde ja ohnehin einmal zurückkommen um zu schauen, ob Rainer Werner Fassbinder dann gesprächiger ist.

 

Ihr Horst-Dieter Radke

 

Erich Kästner: Das doppelte Lottchen

Annette Kolb: Die Schaukel

Joachim Fernau: Rosen für Apoll. Die Geschichte der Griechen.

Joachim Fernau: Sappho

Fassbinder über Fassbinder: Die ungekürzten Interviews.

Teilen:

Ein Gedanke zu „Bogenhausener Friedhofsgespräche“

  1. Herr Kästner hat augenscheinlich noch ne Menge Unternehmungsgeist. Zuletzt habe ich etwas gehört, das er am Lago Maggiore lecker Kaffee getrunken hat, mit einem gewissen Kriminalinspektor Alfred Poggel.
    Herr Kästner hat wohl kaum Reisenkosten. Auf Wolke sieben ist alles frei. Bin neugierig, wo er demnächst wieder was zu sagen hat.

    Amos

Schreibe einen Kommentar