Brasilien Weltmeister

Früher brauchte ich nur in den Garten rennen, und schon war ich in Brasilien. Strohhut auf wegen Sonnenbrand, einen Fußball vor die Füße, und schon hieß ich Jairzinho.

Meine Klassenkameraden nannten sich Kleff, Netzer oder Müller, wie die Bundesliga halt so hieß. Aber ich stand auf Ja-ir-zin-jo, allein schon wegen dem Klang. Und weil in Brasilien immer die Sonne vom Himmel brannte, während es bei uns nur regnete und unsere Sommer kurz waren wie eine Sackgasse.

Mein erstes Lieblingsbuch war über die WM-70 von Ernst Huberty. Ernst Huberty war der Moderator der Sportschau, unvergessen. Ich hatte immer abgeschnittene Jeans und gelbes T-Shirt an und spielte die Partien von Brasilien alleine im Garten nach.

Spurt an der Buchenhecke entlang, Übersteiger, Haken und dann Spannstoß unhaltbar in den Apfelbaum. Vier zu eins, und ich jubelte über den dritten Weltmeistertitel mit himmelhoch gestreckter Faust und Kniefall auf dem Rasen.

Okay, in Wirklichkeit fand die WM-70 in Mexiko statt und Jairzinho eierte die Kopfballvorlage irgendwie hinter die Torlinie. Aber ich durfte etwas schummeln, schließlich war ich noch jung.

Das merkte ich jüngstens, als wir wegen Corona in Quarantäne waren. Die Decke fiel mir auf den Kopf und ich hatte genug von Prime und Netflix, so lief ich, keine Ahnung wieso, plötzlich mit abgeschnittenen Jeans, aber ohne Strohhut, in den Garten. Mit dem Ball vor dem Fuß rannte ich die Buchenhecke entlang, Übersteiger, Haken und zog ab. Wow, das gleiche Feeling wie damals. Okay, bei der Drehung geriet ich wohl etwas in Rückenlage, leider war auch der Apfelbaum seit langem gefällt, und ab ging der Schuss in den Himmel. So was kann passieren nach all den Jahren ohne Fußball und Träumerei. Außerdem schoss unser Lieblingsnachbar den Ball, ohne ein Wort zu verlieren, zurück. Kein Ding, ich habe ihn gleich desinfiziert.

Aber jetzt die geschenkte Zeit zum Lesen und Kicken. Darauf kommt es letztlich an: Seine Träume leben, nie aufzugeben und immer wieder den Spannstoß zu üben. Corona sei Dank. Und einen neuen Apfelbaum haben wir auch schon gepflanzt.

Dazu kam, dass wir uns den traurigen Film über Stefan Zweig streamten: Morgenröte. Gute Gelegenheit, auch die bekannten Bücher wieder herauszukramen: Schachnovelle, Marie-Antoinette, Phantastische Nacht und dann noch das über Brasilien: Ein Land der Zukunft. Was für ein Titel. Für mich war der brasilianische Fußball von 1970 sozusagen das Land, das ich mit der Seele suchte.

Das ist so ähnlich wie bei meinem Kumpel Kay aus Hamburg. Der ist von seiner Mutter her Brasilianer und trotzdem Fan vom FC Sankt Pauli. Er sagte einmal:

„Immer, wenn Sankt Pauli ein Tor schießt, schließe ich die Augen und stelle mir das Maracana vor.“

So geht es also auch, dass man aus Schietwetter am Millerntor einfach das größte und schönste Fußballstadion der Welt macht.

Okay, für Stefan Zweig war Brasilien vielleicht doch nicht so prick, wie es in seinem Buch steht, aber es ist auch anmaßend, andere Menschen besser verstehen zu wollen als sich selbst. Und da frage ich mich: Was und wo ist denn mein Maracana?

Ja, Paradies hieß für mich mal: der Ball klebt am Fuß und landet wie eine Granate im Tor. Leider gelang das auch damals nur höchst selten. Außerdem hatte ich mich damit abgefunden, nicht Jairzinho zu heißen.

Brasilien – das waren für mich Tore, Jubel und Leben, alles in einem Bild.

Verdammt noch mal, irgendwie habe ich im Laufe der Jahre, Familie und Beruf, die Insel meiner Kindheit verloren. Mit Glück steckt sie noch als Bewegungsmuster in meinen Muskeln, und das ist auch nicht sicher, bei meinen Knochen, mittlerweile. Erst beim Spannstoß taucht sie am Horizont auf, ganz leise und mit fast vergessenem Geschmack. Aber mit etwas Training, vielleicht auch einem neuen Lockdown, werde ich es wieder draufhaben. Ich renne wie ein junger Gott die Hecke entlang, Drehung, Schuss, Apfelbaum! Und dann schwinge ich die Faust, kniee auf den Rasen nieder und feiere mich als Weltmeister Brasilien.

Ihr Jürgen Block

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