Als ich kürzlich mit dem Fahrrad zu Hause auf dem Hof ankam, sprach mich ein Nachbar an. Ich deutete auf die Kopfhörer in meinen Ohren und bat ihn mit einer Geste zu warten, bis ich den an den Kopfhörern hängenden MP-3-Player ausgestellt hatte.
Freundlich-missbilligend sagte er: „Heavy Metal auf der Straße?“
Sehe ich wirklich so heavy aus? Wahrheitsgemäß antwortete ich: „Nein, Hörbuch.“
„Biste zu faul zum Lesen?“
Ich war zu faul, ihm zu erklären, dass ich bei meiner schier endlosen LuB (Liste ungelesener Bücher) jede Gelegenheit für Bücher nutzen muss. Wir hielten einen kurzen Schwatz, ehe ich die Treppen hochstieg und dafür den MP-3-Player wieder einschaltete.
Vor allem beim Joggen oder im Supermarkt und manchmal auf dem Fahrrad mag ich Hörbücher, obwohl ich mir darüber im Klaren bin, dass ich damit natürlich auch dem Vorschub leiste, was ich andrerseits bedaure: Dass das Leben immer schneller wird und ich zu oft zu viele Dinge auf einmal tue. Aber wie gesagt, meine LuB ist lang.
Es gibt nicht wenige Werke, die wohl völlig an mir vorbeigegangen wären, wenn nicht sonore Stimmen sie mir nahegebracht hätten. Ganz bestimmt wäre ich nicht „Per Anhalter durch die Galaxis“ gereist. Ich weiß nicht, ob meine Geduld für die 700 Seiten von Elisabeth Gilberts „Das Wesen der Dinge und der Liebe“ gereicht hätte. Charles Dickens „Große Erwartungen“ und Stendhals „Rot und Schwarz“, Eschbachs „Eine Billion Dollar“ und mehrere von Deon Meyers Krimis – sowie sein Roman „Fever“ über eine nachpandemische Welt haben mir meine Joggingstrecke, auf der ich inzwischen beinahe jeden Grashalm kenne, immer wieder in neuem Licht erscheinen lassen. Weil ich sie in Gesellschaft immer wieder anderer literarischer Helden ablief.
Seit diesem Sommer kann ich endlich fundiert mitreden, wenn es um Scarlett O’Hara und Rhett Butler geht – ich dachte, das sollte ich endlich mal tun, bevor der Klassiker womöglich auf den Index kommt. Diesen Schinken hätte ich mir lesend ganz sicher niemals von Anfang bis Ende gegeben, ich bin schon beim Film nie über wenige Minuten hinausgekommen, weil mich die Affektiertheit von Scarlett zu sehr genervt hat. Doch mit der Stimme von Ulrich Noethen waren sogar Kitsch, Rassismus und allzu offensichtliche Propaganda gut einzuordnen und ich habe Scarletts Geschichte bis zum bitteren Ende verfolgt.
Wie sehr sich Hören und Lesen unterscheidet, wurde mir bei Jean-Luc Bannalec klar. Zwei Krimis aus der Reihe „Bretonische …“ haben mich bei Joggingrunden in grauen Berliner Wintern unterstützt. Als ich aber im letzten Jahr in der Bretagne aus dem Bücherregal eines Freundes ein weiteres Buch dieser Reihe zog, war ich schockiert. In gedruckter Form war die behäbige Altmännersprache nur etwa 15 Seiten lang erträglich. Mir war völlig unverständlich, dass mir das beim Hören nie aufgefallen war. Natürlich kann ich die Reihe nun auch hörend nicht mehr ertragen. Es ist nicht schade drum, denn meine LuB ist zu lang für schlechte Bücher.
Für gute dagegen bietet die Pandemie viel Zeit. Lassen Sie sich in den nächsten Wochen doch einfach mal etwas vorlesen.
Ihre
Dorrit Bartel