Das „Clara Ratzka“ Lesebuch

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Zu ihrer Zeit berühmt, danach vergessen. Dieses Los trifft so manche Schriftsteller, oft zu Recht, so manches Mal aber auch nicht. Eine der Schriftstellerinnen, die meines Erachtens heute zu Unrecht übersehen wird, ist Clara Ratzka.

Bis vor kurzem kannte ich die Autorin Clara Ratzka noch nicht, dabei wurde sie in meiner Heimatstadt Hamm geboren, und zwar 1872. Als Mädchen in dieser Zeit aufzuwachsen war kein Zuckerschlecken, insbesondere wenn der Freiheitsdrang stark war. Nach Domschule und Höherer Töchterschule in Münster, wohin die Familie inzwischen gezogen war, absolvierte sie in einem Internat bei Nijmegen eine Lehrerinnenausbildung. Arbeiten durfte sie als Lehrerin jedoch nicht. Auch ihrem Wunsch, Malerin zu werden, verbot man ihr nachzugehen. Stattdessen musste sie den Haushalt der Eltern führen. Vielleicht um aus diesen Zwängen zu entfliehen heiratete sie 1894 einen Großindustriellen, mit dem sie aber nicht glücklich wurde. Nach acht Jahren verließ sie ihn und zog mit ihrer Tochter nach Berlin. Dort engagierte sie sich in der neuen Frauenbewegung und studierte Nationalökonomie. Mit einer Arbeit über das Thema „Welthandelsartikel und ihre Preise“ promovierte sie 1912 als eine der ersten Frauen Deutschlands zur Dr. rer. pol.

Ein Jahr zuvor hatte sie den ungarischen Portraitmaler Arthur Ludwig Ratzka geheiratet, der sie in das kulturelle Leben Berlins einführte und mit ihr zahlreiche Reisen unternahm. Dadurch angeregt schrieb sie ihren ersten Roman, „Blaue Adria“, der 1916 erschien. Berühmt wurde sie 1919 mit ihrem in Münster spielenden Roman „Familie Brake“, der  diese Stadt überregional bekannt machte. Leserinnen und Leser dieses Romans reisten nach Münster, um die Stadt kennen zu lernen. Ratzka nahm ihre Themen aus den sozialen Verhältnissen ihrer Zeit und stellte tarke Frauenpersönlichkeiten in den Mittelpunkt ihrer Romane. In den Zwanziger Jahren gehörte sie zu den meist gelesenen Autorinnen. 1920 trennte sie sich von ihrem Mann. Sie schrieb darüber:

„Ich fand den Menschen, dem ich meine Liebe geben konnte. Mein damaliger Mann, A. L. Ratzka, begriff, was mich bewegte, und was mir zur vollen Lebensentfaltung fehlte. Wir gingen gütlich auseinander und ich heiratete im September 1920 meinen jetzigen Mann, den Attaché Dr. jr. Ernst Wendler.“

Im Auftrag eines Berliner Verlages unternahm sie 1927 mit einem Dampfschiff alleine eine Weltreise. Nach ihrer Rückkehr zog Clara nicht zu ihrem Mann, sondern bezog eine eigene Wohnung. Sie nahm sich am 3. November 1928 in Berlin das Leben. In ihrem Gedicht „Abschied“ aus ihrem letzten Jahr schreibt sie:

„… in weiter Ferne

des Liebsten Schritt.

Oh, nimm mich mit.“

Und:

„… der Liebste darf nicht verübergehen,

er möchte meine Wunden sehn.“

Ihr Wunsch, in Münster begraben zu werden, wurde nicht erfüllt, weil in der katholischen Stadt niemand beerdigt werden sollte, der dreimal verheiratet gewesen war.

Diese heute fast völlig vergessene Autorin verdient nach wie vor, gelesen zu werden. Immerhin, das Lesebuch in der Reihe „Nylands Kleine Westfälische Bibliothek“ bietet einen guten Einstieg in ihr Werk. Neben biografischen Texten aus Kindheit und Jugend finden sich Auszüge aus Romanen (u. a. „Blaue Adria“, „Familie Brake“, „Frau Doldersum und ihre Töchter“) und einige ihrer Reiseberichte sowie ein Nachruf von Elisabeth Altmann-Gottheimer aus dem Jahr 1929. Ich habe nach meiner Lektüre sofort den Roman „Familie Brake“ bestellt – antiquarisch, denn aktuell hat kein anderer deutscher Verlag Clara Ratzka im Programm.

Ihr Horst-Dieter Radke

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