Das stille Haus – Sörens Beitrag

Still steht es da. Und doch scheint es bewohnt. Die Fenster sind klar, die Treppe ist immer gefegt, der Garten sauber, wenn auch nicht akkurat. Das Teich davor mit klarem Wasser, obwohl es ein wenig bräunlich ist.

Und doch. Niemand öffnet, wenn man klingelt. Seit Jahren macht er es, wenn er auf seiner Wanderung an diesem Haus vorbeikommt, schon aus Tradition. Auch diesmal. Er hat sich schon umgewandt und will wieder gehen, weil der Pflicht genüge getan ist, da stutzt Sören, wendet sich noch einmal um.

Die Tür ist offen. Einen Spalt nur, aber vorhin, als er klingelte, war sie es noch nicht.

Hallo? ruft er, doch es kommt keine Antwort. Er stößt die Tür noch ein wenig weiter auf und ruft ins Haus: Hallo? Ist da wer?

Keine Antwort. Er zögert, öffnet dann aber entschlossen die Tür ganz und geht hinein.

 

Drinnen ist alles ganz still. Es riecht nach Putzmittel, altem Obst und nach Münzen. Letzteres irritiert ihn, aber was an und in diesem Haus ist nicht merkwürdig? Die Dielen knarren unter seinen Schritten. Kurz befürchtet er sogar, eine von ihnen könnte brechen.

Im Halbdunkel erblickt er vor sich einen langen Flur. Mehrere Zimmertüren liegen vor ihm.

„Hallo“, ruft Sören noch einmal. „Ist hier irgendwer?“

Nichts geschieht.

Fast nichts.

Plötzlich hört er ein leises Knarren. Es kommt von links. Auch diese Tür steht einen Spaltbreit offen.

Zögernd geht er darauf zu. Sein Herz schlägt immer schneller.

Erneutes Knarren. Keinen Zweifel. Es kommt aus dem Raum zu seiner Linken.

Er drückt die Tür weiter ins Zimmer hinein.

Ein leises Husten ertönt. „Nur keine Scheu. Ich warte schon so lange auf dich.“

Er spürt, wie sein Mund trocken wird. Obwohl ihm eine innere Stimme rät, schleunigst abzuhauen, geht er weiter.

Der Raum liegt in einem Halbdunkel, das mehr verbirgt als offenbart. Durch die Fensterläden gelangen nur vereinzelte Sonnenstrahlen hindurch. Sören glaubt, vor sich die Umrisse eines Tisches und eines Stuhls zu erkenne. Jemand sitzt darauf.

Er geht weiter und versucht, mehr zu erkennen. Der Unbekannte hustet abermals. Es klingt vertraut.

Dann ist er nah genug heran, um alles zu sehen.

Das kann nicht sein.

An dem Tisch sitzt er selbst.

Dasselbe Gesicht, dasselbe Alter. Dieselbe Statur. Selbst die Haltung ist dieselbe.

„Wer bist du?“, fragt er mit zugeschnürtem Hals.

„Ich bin du“, antwortet sein Gegenüber. Selbst die Stimme ist identisch.

„Das … kann nicht sein.“

„Und doch ist es so. Ich warte hier auf dich. Schon lange.“

„Unmöglich! Warum?“

„Weil es dein Haus ist.“

„Das ist doch Unsinn“, beharrt Sören. „Ich war doch niemals hier.“

„Stimmt, nicht direkt hier. Aber trotzdem da“, sagt der Doppelgänger.

„Ich verstehe kein Wort.“

Der Mann auf dem Stuhl erhebt sich. „Du hast dieses Haus vor etlichen Jahren zusammen mit deiner Frau und deinen Kindern gekauft.“

„Welche Frau, welche Kinder? Ich bin nicht verheiratet und habe auch keine Kinder.“

Der Doppelgänger fährt unbeeindruckt fort: „Deine Frau hieß Luisa. Ihr beziehungsweise wir hatten zwei Kinder. Sie kamen vor einiger Zeit ums Leben.“

„Luisa? Luisa Wagner?“

Der andere nickte.

„Wir waren mal zusammen. Aber die Beziehung ging auseinander. Wegen eines dummen Missverständnisses. Ich habe es versaut.“

„Nicht in meiner Welt. Das hier ist der Wendepunkt. Der Schlusspunkt. Hier ist der Ort, wo all alles zusammenläuft.“

„Ich verstehe nicht … was erzählst du da? Was soll dieser Quatsch?“ Sören weicht zurück. Alles in ihm schreit danach, davonzulaufen. So schnell und so weit wie möglich. Er wirbelt herum, will aus dem Zimmer stürmen. Doch die Stimme des Doppelgängers lässt ihn stocken: „Wenn du jetzt gehst, gibt es kein Zurück mehr. Dann war alles umsonst.“

„Was meinst du damit?“ Er zögert nur kurz. „Ach, weißt du was: Ich will es gar nicht wissen.“

Die ganze Situation ist Wahnsinn. Surreal. Unwirklich. Unnatürlich. Er hat das Gefühl, hier drinnen keine Luft mehr zu bekommen. Die Welt um ihn herum beginnt zu wanken. Er muss hier weg.

Verzweifelt rennt Sören los. Beschleunigt mit jedem Schritt. Durch den Flur, durch die Haustür. Lässt sie sperrangelweit offenstehen.

Draußen saugt er gierig die frische Luft ein. Genießt die Wärme der Sonne.

Erst nach etlichen Metern wagt er, sich umzudrehen. Das Haus wirkt wieder genauso verlassen wie früher. Die Tür, die er gerade offenstehen gelassen hatte, ist verschlossen. Sie sieht so aus, als wäre sie seit Jahren nicht geöffnet worden.

Sören schluckt hart.

Sören Prescher

 

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2 Gedanken zu „Das stille Haus – Sörens Beitrag“

  1. Guten Morgen Sören, hart schlucken und etwas trinken ist dann sicher gut, wenn man seinen Doppelgänger trifft.
    Das stille Haus ist überhaupt still. Jeden Sonntag voller Überraschungen.
    Vielen Dank für den fantasievollen Hausbesuch.

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