Der Unbekannte

Schietwettergeschichte von Linda Cuir

Sollte sie bei diesem Saichwetter das gemütliche Zuhause verlassen? Seit Wochen hatte sie die Reise verschoben, da kam es auf ein paar Tage gewiss nicht an. Sie trat an das Fenster. In diesem Moment brach die tiefhängende Wolkendecke auseinander und die Sonne zeigte sich. Der Wind peitschte schwere, graue Wolkenmassen über den immer blauer werdenden Himmel. Jetzt gab es kein Zurück. War es ein Zeichen? Unsinn, dachte sie, nahm die Tasche, die Autoschlüssel und verließ das Haus.

Nach einer halben Stunde Autobahnfahrt erreichte sie die Ausfahrt Freiburg und fuhr über die Schnellstraße stadteinwärts. Am Ortsschild verlangsamte sie das Tempo. War es nicht sinnvoller, zuerst das Grab und später das Haus aufzusuchen? Allein bei dem Gedanken an ihr ehemaliges Zuhause spürte sie einen Druck in der Brust. Denn bisher hatte sie sich mit immer neuen Ausreden davor gedrückt, das Haus auszuräumen. Vor ihrem inneren Auge tauchte Elsa auf und sofort hatte sie den Geruch des Parfums von Hèrmes in der Nase, das ihre Mutter immer wie ein Kokon umhüllt hatte. Grab, entschied sie und beschleunigte.

Überraschenderweise fand sie einen freien der wenigen Parkplätze direkt vor dem Hauptportal.

Sie passierte das Tor. Das Wasser der Springbrunnen beidseits der breiten Auffahrt war längst abgestellt. Alte, schwarzgekleidete Frauen in abgewetzten Wintermänteln und Strickhandschuhen saßen trotz der Kälte schwatzend auf einer der Bänke neben dem Ständer mit den scheußlichen gelben Gießkannen, als müssten sie diese bewachen. Eichhörnchen sprangen von einem Kastanienbaum zum nächsten. Einen Moment beobachtete sie die putzigen Tiere, dann schlenderte sie den Sandweg neben der Auffahrt zur Einsegnungshalle entlang. Hin und wieder blieb sie stehen und betrachtete die prächtigen Grabsteine der Honoratioren alteingesessener Familien Freiburgs. Wie früher strich sie den Wache haltenden Putten über die Köpfe und sah die Mauer hinauf, zu den dort schwebenden Engeln. Wie oft war sie seit ihrer Kindheit diesen Weg entlang spaziert und hatte dabei stets etwas Neues entdeckt. Doch in letzter Zeit fand sie immer seltener diese liebenswerten Steinfiguren oder ästhetischen Obelisken. Die alten, efeuberankten Ruhestätten wichen neu belegten, sparsam gestalteten, gar lieblos wirkenden Gräbern.

Sie sog die kalte Luft hörbar ein. „Ja, Erinnerungen an tote Familienangehörige sind nicht mehr en vogue“, sagte sie in die Stille des Friedhofs und passierte die Laubengänge. Eine Gießkanne lag orientierungslos auf dem durchweichten Boden. Laura hängte die mit Nummer 42 gekennzeichnete Kanne an den Platz zurück und stapfte weiter durch Haufen goldgelben Laubs, das der Wind auf dem Weg zusammengetrieben hatte und näherte sich ihrem Ziel. Sie stutzte. Ein schlanker dunkelgekleideter Herr stand vor der Grabstätte ihrer Familie. Sie hielt inne und verschanzte sich hinter einem Kirschlorbeer. Achtsam drückte sie die Zweige auseinander und sah seinem seltsamen Gebaren zu. Der Fremde interessierte sich keineswegs nur für die Inschriften des Steines, sondern erweckte den Eindruck, als gehörte er hierher. Der stattliche Mann umrundete das Grab, bückte sich, klaubte Laub auf, zupfte an dem Buchsbaum und den Zypressen herum, nahm die verwelkten Sträuße hoch und trug alles zur nahegelegenen Biotonne. Der Wind frischte auf. Letzte Blätter segelten wie Drachen zwischen den Gräbern hindurch. Nach und nach schloss sich die Wolkendecke. Laura fröstelte. Sie zog den Mantel enger um ihren Körper. Der Herr kehrte zurück und nahm die Kerze heraus, die sie in dem kleinen Glashaus deponiert hatte. Mit einem Ratsch entzündete er ein Streichholz und hielt ihn an den Docht. Nach kurzem wilden Flackern erlosch die Flamme. Wieder und wieder zündete er erfolglos Hölzchen an. Die abgebrannten Teile schob er sorgsam in die Pappschachtel zurück. Jetzt reicht es! Was maßt sich dieser Kerl an? Entschlossen eilte sie zu der Grabstätte. Um nicht allzu ungehalten zu reagieren, legte sie zuerst das mitgebrachte Herz aus Wildmoos auf dem Viereck ab und sagte wie beiläufig:

„Guten Tag, ich vermute, Sie haben sich verirrt. Das hier ist die Ruhestätte meiner Familie. Sie befinden sich auf Feld 11, Reihe 1.“

„Keineswegs. Das ist das Grab meiner Mutter“, erwiderte er, lächelte verschmitzt und lupfte seinen Hut. „Darf ich mich verstellen: Marcello, Graf Marcesi – aus Vicenza.“

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, ihr Puls raste. Sie spürte das Pochen an den Schläfen. Ein Irrer, der aus der nahe gelegenen Psychiatrie entlaufen ist. Aber wie verhält man sich gegenüber psychisch Kranken? Keinesfalls durfte sie diesen elegant wirkenden Herrn verärgern, gar reizen. Vermutlich lebte er in einer anderen Welt. Möglicherweise könnte er gefährlich werden. Sie sah sich um. Nirgends war jemand zu entdecken. Behutsam antwortete sie: „Verzeihung, Ihre Mutter? Das ist kaum möglich, denn das ist die Grabstätte der Lichtenbergs – meiner Familie, meiner kürzlich verstorbenen Mutter. Schon der Urgroßvater liegt hier begraben, wie Sie sehen.“ Sie deutete auf die Stelle der Inschrift.

 „Völlig korrekt. Ich bin Elsas Sohn. Mein Vater, Graf Gianni hat Elsa während ihres Studiums in Rom kennengelernt und sehr geliebt, aber die Zeiten damals …“ Er sah gen Himmel, verzog theatralisch sein feingeschnittenes Gesicht und zuckte dabei mit den Schultern. „Beide hatten sich nie aus den Augen verloren. Die Ehe meines Vaters mit Gräfin Leonora war nicht nur unglücklich, sondern kinderlos geblieben, deshalb bin ich bei ihnen aufgewachsen.“

War sie verrückt geworden? Sie kniff sich in die Hand, da sie glaubte, der Boden schwankte unter ihren Füßen.

„Erst auf dem Totenbett meines Vaters habe ich die Wahrheit erfahren und Elsa kurz vor seiner Beisetzung kennengelernt. Glücklicherweise durften wir noch fünf wunderbare Jahre gemeinsam verbringen.“

Sie hörte die tiefe Stimme des Mannes wie durch eine Wand aus Watte.

„Folglich sind Sie Laura.“

Sie nickte. Trotz der Kälte durchströmte eine unangenehme Hitze ihren Körper. Wusste ihr Vater davon? Ein bisher nicht gekanntes Gefühl erfasste sie – ein Gemisch aus Wut, Enttäuschung und Trauer. Würde sie beim Ausräumen des Hauses weitere Überraschungen aus Elsas Zeit in Italien entdecken? Allein dieser Gedanke ließ sie erschaudern.

„Elsa hat mich mehrmals in Vicenza besucht. Hin und wieder haben wir uns in Baden-Baden getroffen. Ich glaube, dadurch wollte sie vermeiden, dass ich sie in ihrem Haus besuche. Auf meine Frage nach dem Warum, hat sie die Schultern gezuckt und irgendwie abwesend gelächelt.“

Aha, Verona, daher die vielen Konzertreisen. Weshalb hatte ihre vornehme Mutter nie darüber gesprochen, ihr diesen Bruder verschwiegen? War es Scham? „Und gibt es einen Grund dafür, dass Sie mich nie kontaktiert haben?“

„Da ich zu Elsas Beerdigung verspätet eingetroffen bin, habe ich die Dame neben mir gefragt, ob sie die blonde Frau am Grab kenne. Erst von ihr habe ich erfahren, dass es eine Tochter Laura gibt. Nach dieser Erkenntnis bin ich derart überrascht oder besser betroffen über Elsas Verhalten gewesen, dass ich mich nicht dazu in der Lage gesehen habe, mich Ihnen an diesem traurigen Tag vorzustellen. Dann sind sie in der Menschenmenge verschwunden.“

Merkwürdig. „Und woher haben Sie erfahren, dass Ihre Mutter tot ist und wann und wo die Beerdigung stattfindet?“

„Der Bestatter hat mich informiert. Seither habe ich nach Ihnen gesucht. Erfolglos. Dann musste ich mehrere Wochen geschäftlich in Asien verbringen und bin erst kürzlich zurückgekehrt. Und heute wollte ich den Bestatter aufsuchen und mich nach Ihrer Adresse erkundigen. Um Ihr Misstrauen zu zerstreuen: Ich trage einen Brief meines Vaters bei mir.“ Er griff in seine Manteltasche und zog ein Kuvert hervor. „Zum Beweis.“

In diesem Augenblick öffnete der Himmel seine Schleusen. Prasselten etwa Elsas ungeweinte Tränen auf sie beide herab? „Saichwetter“, sagte Laura verlegen und schämte sich für ihren Argwohn.

Er lachte, ließ den Schirm aufspringen und legte seinen Arm um die Schultern der Halbschwester. „Ja, wirklich grässlich. Komm lass uns gehen.“

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