Die Abfahrt

Schreiben zu Musik von Horst-Dieter Radke

Jon Lord – Gigue

Er hatte lange strampeln müssen, um oben auf dem Pass anzukommen. Doch er war jung und liebte die Herausforderung. Endlich die Schule hinter sich, die Zukunft noch kaum angebrochen – da wäre es reiner Unsinn, sich gleich wieder in irgendwelche Zwänge zu begeben. Ausbildung, Studium oder irgendetwas anders, ja, das konnte kommen, später. Jetzt aber erst einmal nur der Sehnsucht folgen – was immer das auch bedeutete. „Es über den Berg schaffen“, hatte er früher oft gesagt, „darauf kommt es an.“ Und alle nickten zustimmend und lauschten seinen Parolen, als wäre er ein weiser alter Mann mit Jahrhunderten Lebenserfahrung. Er musste lachen, denn er glaubte sich ja selber nicht. Aber solche Sprüche hörten sich toll an und sie machten Eindruck bei anderen – sogar bei Mädchen. Er berührte sie gern, küsste sie mit Leidenschaft – ließ sie jedoch schneller wieder los, als es ihnen lieb zu sein schien. Er wollte aber warten, auf die Eine, die Richtige. Auch deshalb musste er losfahren und auf diesem Pass landen. Sie würde ihm begegnen, da war er sich sicher. Früher oder später. Egal, er hatte ja Zeit. Doch wenn er sich nicht bewegte, verpasste er sie womöglich noch.

Sein Blick schweifte in die Ferne, fing die weit vor ihm liegende Ebene ein, zog sich langsam zurück, bis er das Ende der Passstraße sah. Er folgte ihr durch alle Serpentinen zurück bis direkt vor seine Füße.

Also los. Er stieg auf sein Rad, prüfte den Sitz des Helms. Der Atem ging wieder ruhig, er konnte die Abfahrt, auf die er sich den ganzen Weg hinauf gefreut hatte, wagen. Es war eine schöne Strecke bisher, wenig Autos, einige Motorräder, andere Radfahrer. Die meisten nahmen ja den Tunnel, verpassten so den wunderbaren Ausblick. Zum Glück für ihn. Er schwang sich auf das Rad, trat dreimal durch, um in Schwung zu kommen, schaltete hoch und ließ es dann laufen. Vor den Kurven bremste er ab – mehr musste er nicht tun. Fast unmerklich erhöhte er auch das Tempo in den Kurven. War das ein Gefühl. Der Fahrtwind rauschte in den Ohren, dass er die anderen Laute seiner Umgebung nicht mehr hörte. Ihm war es wie Musik. Und dann schob sich unmerklich langsam das offene rote Kabriolett an ihm vorbei, eine Frau am Steuer, deren Haare der Fahrtwind nach hinten legte. Sie schaute lächelnd zu ihm hinüber und in diesen Sekunden wusste er: Das! Ist! Sie! Sein Denken verlangsamte sich für einen Moment, um dem Erstaunen Raum zu geben. Als es wieder auf normal schaltete, konnte er gerade noch erkennen, dass er die Biegung nicht mehr schaffen konnte. Leitplanken gab es hier oben nicht. Bevor er daran dachte, gegenzulenken, schoss er über den Rand der Straße hinaus und flog eine lange Zeit durch die Luft. Seine Wahrnehmung ging wieder zurück in den Zeitlupenmodus. Endlos schien der Flug zu dauern – bis zu dem Moment, in dem er mit dem Rad auf den Hang aufsetze. Noch saß er im Sattel. Keine Bäume, keine Sträucher hinderten seine Abfahrt hinunter und erst kurz vor der Straße stieß er gegen einen Felsbrocken, überschlug sich mit dem Rad und krachte auf die Straße.

Absolute Schwärze umgab ihn. Langsam lichtete sich das Dunkel und er sah, wie sich vor den hellblauen Himmel ein Frauenkopf schob. Sie! Ich wusste es, sie kommt mir entgegen, dachte er.

„Ganz ruhig liegen bleiben“, sagte eine sanfte Stimme, „Hilfe kommt gleich“. Ja, ich bleibe liegen, wollte er sagen, konnte es aber nicht. Er versuchte zu lächeln, und bei diesem Versuch verblasste alles – der Himmel – das Gesicht – seine Wahrnehmung.

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