Die (deutsche) Kurzgeschichte – II. Die andere deutsche Kurzgeschichte

Statements wie die von Wolfgang Weyrauch oder Heinrich Böll sind hilfreich zur Findung eines neuen Selbstbewusstseins. Noch mehr hilft dabei „Gruppenbildung“. Die von Hans Werner Richter 1947 ins Leben gerufene „Gruppe 47“ war ein Katalysator, zumindest im ersten Jahrzehnt. Auch die „deutsche Kurzgeschichte“ hat davon profitiert. Heinrich Böll gewann 1951 den Preis dieser Gruppe mit seiner Kurzgeschichte „Die schwarzen Schafe“. Zwar hatte Böll schon vorher veröffentlicht, doch erst mit diesem Preis für diese Satire wurde er richtig bekannt.

Ein Jahr später bekam Ilse Aichinger (1921–2016) den Preis für ihre „Spiegelgeschichte“. Diese Kurzgeschichte scherte sich nicht um die Forderungen, die Weyrauch aufgestellt hatte und passt auch nicht in das Schema, das Böll wenig später festlegte. In der Erzählung wird das Leben einer Frau erzählt und zwar rückwärts. Ein ganzes Leben – nicht nur ein paar Stunden, wie gefordert. Die Spiegelgeschichte wurde trotzdem als preiswürdig angesehen. Hans Werner Richter (1908–1993) schreibt über dieses Ereignis:

„Ilse las, was ich ihr empfohlen hatte, ihre ›Spiegelgeschichte‹. Sie las mit ihrer sehr artikulierten, sehr leisen und sehr eindrucksvollen Stimme, es war wieder ein Märchen, das sie mehr erzählte als vorlas, eine Geschichte, die rückwärts lief, vom Grab bis zur Geburt. Am Ende ihrer Lesung gab es Beifall, was nicht üblich war, und ich verbot es sofort, was einigen mißfiel. Nur Ilse nahm es mir nicht übel, sie ahnte wahrscheinlich schon ihren kommenden Sieg.“
(aus: Im Etablissement der Schmetterlinge)

Für Aichinger ist diese Kurzgeschichte kein Einzelfall. Schaut man sich das erzählerische Werk der Autorin an, findet man kaum eine Geschichte, die den Regeln für eine deutsche Kurzgeschichte entspricht. Aichinger neigte im Laufe der Jahre zur Verknappung. Ihr einziger Roman („Die größere Hoffnung“) stand am Anfang ihrer schriftstellerischen Laufbahn (1948). Ihre Textsammlung „Schlechte Wörter“ enthält dann bereits Texte, die selten über zwei Seiten hinauskommen. Und trotzdem sind viele davon echte Geschichten, also Texte, die etwas erzählen. Hans Magnus Enzensberger (1929) schreibt dazu:

„Sie schrieb immer weniger, und ihre Texte wurden immer kürzer. Einen Sammelband von 1976 nannte sie Schlechte Wörter. Sie hat wahr gemacht, was sie sich vorgenommen hatte, als sie jung war: Ich wollte am liebsten alles in einem Satz sagen.“
(aus: 99 Überlebenskünstler – literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert)

Ein anderer Autor, der gerne als Referenz für die „deutsche Kurzgeschichte “ genommen wird, ist Wolfdietrich Schnurre (1920–1989). Auf den ersten Blick scheinen seine Geschichten den Forderungen von Weyrauch und Böll (und den später abstrakter zusammenfassenden Akademikern) zu entsprechen. Aber auch Schnurre lässt sich nicht einengen. In seinem 1950 erschienenen Buch „Die Rohrdommel ruft jeden Tag“ ist es gerade die Titelgeschichte – die letzte im Buch – die den mit mehr als 50 Seiten sich schon von der Kurzgeschichte, wie sie Böll und Weihrauch forderten, entfernt.

Mit „Als Vaters Bart noch Rot war“, 1958 herausgekommen, geht er noch einen Schritt weiter. Er nennt dieses Buch „Ein Roman in Geschichten“. Die meisten dieser zwanzig Kurzgeschichten in der Sammlung sind für sich gesehen echte Kurzgeschichten, erzeugen aber durch die thematische Zusammenstellung den Eindruck eines Romans. Hans Werner Richter wandte mit seinen „Geschichten aus Bansin“ (1982) die gleiche Methode an. Schnurres Kurzgeschichten entsprechen außerdem schon nicht mehr den Anforderungen der Kahlschlagsliteratur, weil sie rückwärtsgewandt sind, also von etwas Vergangenem erzählen. Sie sind andererseits aber auch fortschrittlich und aktuell, zum Beispiel mit der Geschichte „Jenö war mein Freund“, in der er erstmals den Völkermord an den Roma in der Zeit des Nationalsozialismus thematisierte. Schnurre gehörte vom Beginn bis zum Ende zur Gruppe 47. Mit der Lesung seiner Geschichte „Die Beerdigung Gottes“ startete diese Gruppe 1947 am Bannwaldsee, zur letzten Tagung im Herbst 1977 las er sie noch einmal zum Abschluss. Hans Werner Richter beschreibt ihn so:

„Für mich aber ist er nicht nur ein Schriftsteller, sondern mehr als das: ein Original. Er sah und sieht die Welt, das Leben und vielleicht auch die Literatur anders als ich, aber immer originell, immer aus einem mir manchmal auch fremden, ganz eigenen Blickwinkel.“
(aus: Im Etablissement der Schmetterlinge)

Erfreulicherweise wird Schnurre heute noch gelesen. Seine Bücher sind zumindest teilweise noch verfügbar.

Und dann ist da noch Ingeborg Bachmann (1926–1973), die uns durch den jährlich vergebenen Preis in Klagenfurt noch in Erinnerung ist. Doch wer kennt heute noch ihre Texte? Im Jahr 1952 las sie zum ersten Mal bei der Gruppe 47, im Jahr drauf gewann sie deren Preis, allerdings nicht für eine Kurzgeschichte, sondern für ein Gedicht. Auch ihre kurzen Erzählungen weichen von der Standardkurzgeschichte der Trümmerliteratur ab. Statt auf Bilder, Botschaften und Anspielung zu verzichten setzte sie auf Metaphern und Ausgestaltung ihrer Sprache. Gern von ihr zitiert und auch im Unterricht genutzt ist die Erzählung „Das dreißigste Jahr“, die mit mehr als vierzig Seiten aber schon den Rahmen der Kurzgeschichte sprengt. Es gibt in ihrem erzählerischen Werk jedoch ausreichend Texte, die die Bezeichnung Kurzgeschichte verdienen, auch wenn sie nicht zwingend den aufgestellten Regeln folgen. Vielleicht gerade deswegen. Hans Werner Richter schrieb über sie:

„Ihre Ausbruchsversuche mußten scheitern, wie sie auch gescheitert sind. Die Versuche, die sie unternommen hat, waren von Anfang an dazu verurteilt. Sie wußte es und wollte es doch nicht wahrhaben, immer glaubte sie, es gäbe eine Verbindung zwischen dem Alltäglichen und dem ungewöhnlichen, zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Immer wieder versuchte sie es, und nur sehr selten, vielleicht nie, waren diese Versuche glücklich, immer stieß sie an die Grenzen, die ihr gesetzt waren.“
(aus: Im Etablissement der Schmetterlinge)

Damit meint Richter die persönlichen Bemühungen der Autorin. Betrachtet man rein ihr Werk, ihre Gedichte, Hörspiele und besonders ihr Prosawerk, kann von einem Scheitern jedoch nicht gesprochen werden.

Einer, der aus der Literaturszene der deutschen Nachkriegszeit überhaupt nicht wegzudenken ist, ist Arno Schmidt (1914–1979). Er scherte sich einen Teufel um irgendwelche Regeln, die aus Trümmern entstanden sein sollen und eine angebliche Lücke in der deutschen Literatur zu füllen hätten. Stattdessen entwickelt er neue Prosaformen. Von Kurzgeschichte, Erzählung oder Roman bei Schmidt zu sprechen, ist mit Blick auf die bisherige Tradition kaum möglich. Berücksichtigt man aber, dass Traditionen sich erweitern und erneuern können, dann gibt es Derartiges bei ihm durchaus. Seine „kürzeren Texte“ erschienen unter anderem in der Zeitschrift „Texte und Zeichen“, die von 1955 bis 1957 von Alfred Andersch herausgegeben wurde. Später gab es seine Texte als Fischer Taschenbuch. Heute wird sein Werk von der Arno Schmidt Stiftung betreut.

Zum Schluss vielleicht noch ein Blick auf einen typischen Vertreter der „Kahlschlagliteratur“: Paul Schallück (1922–1976). Er reüssierte 1951 mit dem Roman » „Wenn man aufhören könnte zu lügen“. Der in Warendorf geborene Schriftsteller lebte nach dem Krieg in Köln und war ein guter Freund von Heinrich Böll. Eine gewisse Ähnlichkeit in seinen Kurzgeschichten zu dem bekannteren Freund lässt sich nicht verleugnen, aber er hat doch einen eigenen Ton und ist in der knappen Form Böll durchaus ebenbürtig. Leider ist er heute weitgehend vergessen. Immerhin ist in der Reihe Nylands Kleine Westfälische Bibliothek ein preiswertes Taschenbuch erschienen, das einen Überblick aus seinem Werk gibt.

Deutlich ist, dass die Fixierung des Begriffs „Deutsche Kurzgeschichte“ auf die Literaten der „Kahlschlag- und Trümmerliteratur“ für die Zeit von 1945–1960 viel zu knapp gefasst ist. Im nächsten Beitrag zur Kurzgeschichte werde ich auf die deutschen Kurzgeschichten eines speziellen Genres eingehen.

Bis dahin wünsche ich Ihnen vergnügliche Lektüre mit deutschen Kurzgeschichten jenseits von Trümmern und Kahlschlag.

Ihr

Horst-Dieter Radke

Zitate aus:
Hans Magnus Enzensberger: 99 Überlebenskünstler – literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert, Suhrkamp 2018
Hans Werner Richter: Im Etablissement der Schmetterlinge, Hanser, 1986

Literaturliste:
Ilse Aichinger: Der Gefesselte, Erzählungen 1, Fischer 1991 (7. Auflage 2010), erstmals erschienen 1953
Ilse Aichinger: Eliza Eliza, Erzählungen 2, Fischer 1991 (3. Auflage 2004), erstmals erschienen 1965
Ilse Aichinger: Schlechte Wörter, Fischer 1991 (3. Auflage 2007), erstmals erschienen 1987
Ingeborg Bachmann; Sämtliche Erzählungen, Piper 2003, erstmals erschienen 1978
Paul Schallück: Lesebuch, Aisthesis Verlag, 2008
Wolfdietrich Schnurre: Funke im Reisig: Erzählungen 1945 bis 1965, Berlin Verlag 2010
Wolfdietrich Schnurre: Als Vaters Bart noch rot war, Berlin Verlag 2014
Wolfdietrich Schnurre: Als Vater sich den Bart abnahm, Berlin Verlag 2008

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