Die (deutsche) Kurzgeschichte – III. Die deutsche Science-Fiction-Kurzgeschichte

Wenn es um die deutsche Kurzgeschichte geht, war und ist die Literaturwissenschaft auf einem Auge blind. Sie berücksichtigt nämlich nicht, dass in einem Genre die Kurzgeschichte wunderbare Blüten trieb: nämlich in der Science-Fiction. Während in den Genres wie Krimi, Liebesgeschichten etc. hinsichtlich Form und Sprache alles beim Alten blieb, wurde in der Science-Fiction bereits früh experimentiert, gerade in den kurzen Formen. Auch dies hat seine Bezugspunkte in der amerikanischen Literatur. Fast alle Autoren, die in diesem Genre groß geworden sind, haben mit der Short Story begonnen und diese meist auch durchgehend gepflegt. Einige sind gerade wegen dieser berühmt, etwa die Autorin James Tiptree jr.

Will man über die deutsche Science-Fiction-Literatur sprechen, muss man vielleicht als erstes Wolfgang Jeschke (1936–2015) nennen. Er war ab den 1970er-Jahren derjenige, der die Science-Fiction in Deutschland aus der Schmuddelecke holte. Als Herausgeber u. a. für den Heyne Verlag sorgte er dafür, dass bedeutende Autoren in ungekürzten Übersetzungen erscheinen konnten. Bis dahin gab es selbst Romane von Autoren wie Frederik Pohl, Ursula K. Leguin u. a. nur in gekürzten Heftchenfassungen mit meist katastrophalen Titelbildern.

Aber davon soll hier nicht die Rede sein, sondern von Wolfgang Jeschke als Autor. 1955 hat er den SFCD (Science-Fiction Club Deutschlands) gegründet und in der Folge erste Kurzgeschichten in Fan-Magazinen veröffentlicht. Sein erster Roman erschien 1981 bei Heyne („Der letzte Tag der Schöpfung“), sein letzter 2013 („Dschiheads“). Seine erste Kurzgeschichtensammlung „Der Zeiter“ kam 1970 heraus und wurde 1978 von Heyne wiederveröffentlicht. Jeschke ignorierte Regeln für die Kurzgeschichte, verließ die Wege des üblichen Erzählens. Die Erzählung „Tore zur Nacht“ beginnt beispielsweise lyrisch und geht erst nach eineinhalb Seiten in eine Erzählung über, die schließlich wieder mit einem Gedicht endet. Die Kurzgeschichte „Dokumente über den Zustand des Landes vor der Verheerung“ ist gespickt mit Zitaten. Er nennt sie selber Experiment und „rabenschwarze Histografie“. Jeschke schaffte es trotzdem, dichte und auch spannende Geschichten zu schreiben. Die psychologische Dimension seiner Protagonisten ist ihm wichtiger als äußerliche Aktion. Ein beliebtes Thema blieb die Zeitreise, was auch der Titel der ersten Sammlung schon andeutet. Aber auch skurriles und witziges hatte er im Repertoire. Die Reinhold Messner gewidmete Kurzgeschichte „Yeti“ erschien sogar im Playboy, dort allerdings unter dem Titel „Nackt zum Gipfel“. Von 2006 bis 2011 gab der Shayol-Verlag eine dreibändige Ausgabe von Jeschkes Erzählungen heraus. Leider ist die nicht mehr verfügbar und auch der Verlag Geschichte. Immerhin hat Heyne ein E-Book im Programm, das zwölf ausgewählte Kurzgeschichten aus seiner ganzen Schaffenszeit enthält: „Zwölf Geschichten“.

Ein weiteres Urgestein der deutschsprachigen Science-Fiction ist Herbert W. Franke (1927). Manche nennen ihn gar den bedeutendsten deutschen Science-Fiction-Autor. Er ist aber auch Wissenschaftler (von 1973 bis 1997 hatte er einen Lehrauftrag für „Kybernetische Ästhetik“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München) und Sachbuchautor. Im Gegensatz zu Jeschkes Prosa ist die von Franke eher nüchtern, fast schon trocken zu nennen. Bei ihm wird ganz besonders deutlich, dass Science-Fiction-Literatur nicht mit Realitätsflucht zu tun haben muss. Seine Erzählungen beziehen aktuelle Trends und Technologien ein, die er weiterdenkt und Individuen und Gesellschaften mit deren Auswirkungen konfrontiert. Um die Verfügbarkeit seines Werks muss man sich derzeit keine Sorgen machen. Bei pmachinery.de erscheint seit 2014 eine auf 30 Bände angelegte Werkausgabe. Band 1 bis 12 und Band 29 sind schon als Buch und E-Book lieferbar. Erster Band ist die bereits 1960 bei Goldmann erschienene Kurzgeschichtensammlung „Der grüne Komet“. Interessant an dieser Sammlung ist, dass jeder Kurzgeschichte eine Art Motto vorangesetzt wird, mal nur mit einem Satz mal in einem längeren Abschnitt. Er spielt bereits in diesen frühen Texten mit der Form. Die Kurzgeschichte „Meteoriten“ besteht aus einem Wechsel von Tagebucheinträgen mit persönlichen Nachrichten an „Claire“. Auch die Bände 9 („Einsteins Erben“) und 11 („Zarathustra kehrt zurück“) enthalten Kurzgeschichten.

Natürlich sind Jeschke und Franke nicht die einzigen deutschen Autoren, die innerhalb des Genres lesenwerte Kurzgeschichten geschrieben haben. Der SFCD prämiert seit 1985 jährlich „die beste deutsche SF-Kurzgeschichte“ (u. a.). Ralf Boldt und Wolfgang Jeschke haben 2012 bei pmachinery eine Anthologie aller preisgekrönten Texte herausgegeben, eine beachtliche Sammlung, in der Autoren wie Rainer Erler, Marcus Hammerschmidt, Andreas Eschbach, Michael Marrak, Michael K. Iwoleit, Arno Behrend, Frank W. Haubold, Jeschke selbst und noch manche andere vertreten sind. Leider ist diese Sammlung inzwischen vergriffen, wer sie aber antiquarisch bekommen kann, sollte zugreifen.

Zeitschriften halten die Science-Fiction-Kurzgeschichte seit Langem am Leben. Manche waren kurzlebig (etwa „Alien Contact“ des Shayol Verlages), andere haben sich vom einfachen Fanzine zu renommierten literarischen Zeitschriften gemausert, die qualitativ hochwertige Texte und Bilder liefern, wie etwa EXODUS. Auch NOVA, die SF-Zeitschrift, die in Buchform erscheint, überlebt immer noch. Die Ausgabe 28 erschien Ende 2019.

Will man wissen, wie sich die Grenzen der Kurzgeschichte sprengen lassen, so bietet die deutsche Science-Fiction-Kurzgeschichte das beste Anschauungsmaterial. Im nächsten Beitrag gehe ich auf die Entwicklung der deutschen Kurzgeschichte bis zum Jahr 2020 ein.

Bis dahin wünsche ich Ihnen vergnügliche Lektüre mit Kurzgeschichten aus fernen Welten und zukünftigen Zeiten.

Ihr

Horst-Dieter Radke

Literatur:
Ralf Boldt & Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Die Stille nach dem Ton, pmachinery, 2012
Wolfgang Jeschke; Zwölf Geschichten, Heyne 2015 (E-Book)
Herbert W. Franke: Der grüne Komet, p.machinery, 2014

Kleiner Tipp zum Schluss: Wer selber Science-Fiction-Kurzgeschichten schreibt, findet bei p.machinery vielleicht das passende Podium.

Nachtrag: Die Stille nach dem Ton ist als Paperback noch erhältlich, nur die Hardcoverausgabe ist vergriffen. (20.6.2020)

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