Die (deutsche) Kurzgeschichte IV. Von 1960 bis heute

Die hohe Reputation, die die Kurzgeschichte noch in den 1960er Jahren hatte, nahm danach rapide ab. Im Schulunterricht wurde die Definition der Kurzgeschichte eingefroren auf die paar Regeln, die man in den fünfziger Jahren festgelegt hatte und so hält sie sich dort auch bis heute. Dennoch wurden weiter Kurzgeschichten geschrieben und veröffentlicht. Die Zeitungen, Zeitschriften und Magazine nahmen dankbar solche überschaubaren Texte an und veröffentlichten sie im Feuilleton. In den regionalen Gazetten hatten Autoren aus der jeweiligen Region so ein Medium, das ihnen zu einer immerhin begrenzten Öffentlichkeit verhalf. Große Zeitungen machen das auch heute noch dann und wann, jedoch nur mit Autoren, deren Namen einen gewissen Bekanntheitsgrad aufweisen. Buchveröffentlichungen mit Kurzgeschichten gingen zurück. Damit den Einstieg in den Literaturmarkt zu bekommen ist fast nicht mehr möglich. Karen Duve (1961) gelang das noch in den 1990ern, allerdings waren es bei ihr doch schon etwas längere Erzählungen: „Im tiefen Schnee ein stilles Heim“ (Achilla Presse, Hamburg 1995), „Keine Ahnung“ (Suhrkamp, Frankfurt, 1999).

Einer, der nie aufgehört hat Kurzgeschichten und kürzere Erzählungen zu schreiben, war Siegfried Lenz (1926 – 2014). Seine erste Sammlung „So zärtlich war Suleyken“ erschien 1955, seine letzte „Die Maske“ 2011. Die inzwischen vergriffene Ausgabe sämtlicher Erzählungen (Stand 2006) umfasst mehr als 1.500 Seiten. Als zweibändige Taschenausgabe ist sie noch zu haben. Etwas übersichtlicher ist eine einbändige Ausgabe, in der auf 270 Seiten eine Auswahl getroffen wurde. Siegfried Lenz zu lesen heißt, sich auf einen begnadeten Erzähler einzulassen, der, obwohl man es beim Lesen meistens nicht merkt, auch zu Experimenten fähig war.

Experimentiert wurde mit der Kurzgeschichte durchaus. Wolfdietrich Schnurre (1920 – 1989) beispielsweise meinte, dass seine Geschichten nach 1971 keine eindeutige Definition mehr zuließen. Auch Wolfgang Weyrauch, der nicht unerheblich an der Festschreibung von Regeln für die Kurzgeschichte mitgewirkt hat, begann in den späten 1960er Jahren die Ausdrucksmöglichkeiten der kurzen Form auszuloten. Fast alle Autorinnen und Autoren dieser Zeit versuchten sich an Kurzgeschichten und kurzen Erzählungen. Beachtenswerte Ergebnisse lieferten unter anderem Marie Luise Kaschnitz (1901 – 1974), Gabriele Wohmann (1932 – 2015), Josef Reding (1929 -2020) und Christa Wolf (1929-2011). Für eine vollständige Liste ist der Platz hier leider zu knapp.

Interessant ist, dass es vor allem Literaturkritik und Literaturwissenschaft sind, die der Kurzgeschichte ihre Bedeutung absprechen wollen. Die Schriftsteller selber aber haltem weiterhin an ihr festhalten, nutzen ihre Möglichkeiten manchmal verstärkt. Um die Kurzgeschichte zu stützen gab es bereits seit den 1970er Jahren Ausschreibungen zu Wettbewerben, was sich in den folgenden Jahren noch verstärkte. Auf solche Wettbewerbe gehe ich im letzten Teil dieser Artikelreihe ausführlicher ein.

Zwei Namen nenne ich für die deutsche Kurzgeschichte am Ende des letzten Jahrtausends stellvertretend: Ingo Schulze (*1962) – „33 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter“, Berlin Verlag 1995 –, Judith Hermann (*1970) – „Sommerhaus später“, Fischer, 1998.

Judith Hermann bei einer Lesung in Bad Mergentheim.

Nach der Jahrtausendwende gab vor allem das Internet der Kurzgeschichte neue Impulse. Nachdem die Zeitungen und Zeitschriften sich zurückzogen und kaum noch Kurzgeschichten veröffentlichten, bot dieses Medium ganz andere Annäherungen an ein bislang unbeachtetes Publikum. Auch neue Formen entstanden, zum Beispiel über Twitter mit Kürzestgeschichten, die (zunächst) nur aus 144 Zeichen bestehen konnten. In Foren wird über Kurzgeschichten diskutiert. Wettbewerbe werden in einer Vielzahl ausgeschrieben, die zwar nicht mehr die Bedeutung haben wie diejenigen der vorangegangenen Jahrzehnte, aber immerhin die Schreiblust ordentlich anstacheln. Jede und Jeder will nun Kurzgeschichten schreiben, was allerdings auch zu einem Anstieg des „Ausschusses“ führt. Peter Engel und Günther Emig begannen 2014 mit „Hammer + Veilchen“ ein Periodikum zu schaffen, dass der Kurzgeschichte und ihrer Vielfalt neuen Raum geben sollte. Zunächst vierteljährlich als E-Book und jährlich als Printausgabe erschienen, gibt es diese ab 2020 nur noch als Jahresband. Es finden sich bekannte Autoren darunter wie beispielsweise Tanja Dückers (*1968), Gunter Gerlach (*1941) und weniger bekannte Namen – immer aber Texte, die zu lesen sich lohnt und sei es nur darum, festzustellen, wie wenig sich die deutsche Kurzgeschichte um die Festlegung aus den 1950er Jahren schert. Es zeigt sich aber auch, dass sich die Kurzgeschichte Nischen suchen muss, weil ihr anders kaum noch Raum geboten wird. War’s das dann mit dieser Prosaform? Liegt die immer wieder totgesagte Kurzgeschichte nun tatsächlich in ihren letzten Zügen?

Im nächsten Beitrag zu diesem Thema werde ich untersuchen, ob die deutsche Kurzgeschichte überhaupt noch zu retten ist. Bis dahin wünsche ich Ihnen vergnügliche Lektüre mit Kurzgeschichten ihrer Wahl.

Ihr

Horst-Dieter Radke

Siegfried Lenz – Die Erzählungen: 2 Bände im Schuber, Hoffmann und Campe, ISBN 978-3455405545

Siegfried Lenz – Seine schönsten Erzählungen, Atlantik, ISBN 978-3455000931

Judith Hermann – Sommerhaus später, Fischer, ISBN 978-3596147700

Tanja Dückers – café brazil, aufbau, ISBN 978-3-7466-2279-8

Ingo Schulze – 33 Augenblücke des Glücks… ISBN 978-3423123549

Marie Luise Kaschnitz – Jennifers Träume, Unheimliche Geschichten, suhrkamp, ISBN 3-518-37522-9

Karen Duve – Keine Ahnung, suhrkamp, ISBN f3-518-39535-1

Hammer + Veilchen

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