„Sag mal“, werde ich immer wieder gefragt, „woher nimmst du eigentlich deine ganzen Ideen? Hast du das alles selbst erlebt?“
Nur zur Erinnerung: Ich schreibe hauptsächlich historische Romane und Krimis. Soweit ich weiß, gibt es noch keine funktionierenden Zeitreisen, ich bin auch nicht wiedergeboren worden (oder erinnere mich zumindest nicht daran), also fällt die reale Recherche für das Genre „Historischer Roman“ flach.
Und obwohl wir in der Nachbarschaft eine recht hohe Fluktuation haben, liegt das nicht daran, dass ich an den Nachbarn verschiedene Mordmethoden ausprobiere.
Ich recherchiere also sehr viel, lese viel. Manchmal aber erlebt man Dinge, die man am Liebsten in das nächste Buch einbauen würde. Das Leben, so heißt es, schreibt die besten Geschichten. Doch der Leser ist misstrauisch und skeptisch. Kommissar Zufall darf durch kein Buch stolpern, das nimmt einem der Leser übel.
Es gibt Geschichten, die ich tatsächlich erlebt habe, die ich aber niemals schreiben dürfte. Beispiel gefällig?
Unser bevorzugtes Urlaubsziel ist die Atlantikküste in Südfrankreich. Dort haben wir schon viele herrliche Wochen erlebt. Der Sandstrand ist ein Traum und zum Glück bewacht.
Vor Jahren waren wir wieder einmal dort, aber der Tag des Abschieds war gekommen. Ich hatte gepackt, das Auto war beladen, es mussten nur noch Brote geschmiert und das Chalet geputzt werden. Der Tag war eine glatte Eins – blauer Himmel, ein nur laues Lüftchen … meine Familie kam vom Strand wieder. „Es ist perfekt, das Meer, der Strand, die Luft – alles. Du musst unbedingt noch einmal mit ans Meer kommen.“
Da wir erst gegen Abend fahren wollten, sprach nichts dagegen. Und sie hatten Recht – es war wunderschön.
Ich beschloss mich ein letztes Mal in die Wellen zu stürzen, die an dieser Stelle schon mal recht heftig sein konnten, an diesem Tag aber eher sanft waren. Die Flaggen waren alle grün. Entschlossen stapfte ich in den Atlantik. Mein jüngster Sohn war damals noch im Kindergartenalter, sein Vater und er standen jauchzend in der Brandung.
Nach einigen Metern, das Wasser ging mir gerade bis zum Bauchnabel, drehte ich mich um und winkte meiner Familie zu. Doch was war das? Die schnuckeligen Lifeguards starrten entsetzt auf das Meer hinter mir, wie auch alle anderen am Strand. Dann ertönte ein lautes Warnsignal, die Männer auf den Wachtürmen sprangen nach unten, alle winkten heftig. Mein Partner nahm unsere Sohn und rannte den Strand hoch, er schrie mir etwas zu, was ich aber nicht hörte. Ich drehte mich um und stand einer Wasserwand gegenüber. Die Welle war gigantisch und bevor ich noch Luft holen konnte, verschluckte sie mich und die etwa 200 anderen Schwimmer um mich herum. Ich wurde zu Boden gedrückt, herumgewirbelt, endlich konnte ich auftauchen und nach Luft schnappen. Die Wucht hatte mir den Badeanzug vom Körper gerissen, zum Glück baumelte er um meinen Fuß. Das Wasser war nun so hoch, dass ich nicht stehen konnte – aber spiegelglatt. Um mich herum tauchten immer mehr Köpfe auf. Die Rettungsschwimmer waren in die Fluten gestürzt – aber niemand war wirklich zu Schaden gekommen.
Nur meine Brille – die war weg. Verzweifelt tastete ich den Boden ab (nachdem ich mich wieder angezogen hatte) – das Wasser floss so schnell ab, wie es gekommen war. Später erfuhren wir, dass der Minitsunamie wohl durch eine tektonische Verschiebung entstanden war. Auch die Rettungskräfte hatten so etwas noch nicht erlebt.
Meine Brille fand ich natürlich nicht mehr. Ohne sie bin ich aber blind wie ein Maulwurf und dummerweise hatte ich den Ersatz vergessen. Wir suchten den ganzen Strand ab, verfolgten die Strömung, aber das alles blieb natürlich ohne Erfolg. Ins Wasser durfte erstmal niemand mehr – die Flaggen zeigten nun rot an.
12 Stunden Fahrt lagen vor uns, mindestens. Ohne Brille konnte ich natürlich nicht fahren. Aber ohne Brille und nur mit verschwommenem Ausblick auf die Landschaft würde mir auch ganz grauenvoll schlecht werden. Ich war verzweifelt. Wir fuhren schnell zu einem Optiker in den nächsten Ort, der mir Tageslinsen gab. Damit konnte ich allerdings nur in die Ferne sehen – aber vielleicht würde ich so die Fahrt überleben.
Ich schmierte Brote, was nicht ganz so einfach war, packte den Rest und fegte die Hütte. Dann waren wir fertig und konnten fahren.
Bekannte, die auch auf dem Platz Urlaub machten, kamen, um sich von uns zu verabschieden. Sie waren nachmittags am Meer gewesen und erzählten, dass der Strand wieder freigegeben worden war. Die Tochter kam auf mich zu. „Ich habe ein Abschiedsgeschenk für dich“, sagte sie. „Weißt du, ich war im Wasser und da ist immer so etwas gegen mein Knie geschwommen. Ich dachte, es sei ein Stück Holz, aber es war das hier.“ Mit diesen Worten reichte sie mir meine Brille.
Ungläubig starrte ich sie und meine Sehhilfe an. Ich wähnte diese schon längst unterwegs in Richtung England oder Amerika …
Die Brille war ein wenig zerkratzt, aber ansonsten völlig intakt.
Unglaublich, aber wahr. Jedoch so absolut unglaublich, dass ich das nie in einer Geschichte bringen könnte, denn Sie sitzen doch jetzt auch kopfschüttelnd da und sagen: Das ist absolut unmöglich.
Doch unglaubliche Dinge passieren, man darf nur nicht darüber schreiben.
Ihre Ulrike Renk