Die Zehen von Margarete Schuster

Liebesgeschichte von Tom Liehr

Als die Fertigstellung der neuen Schwimmhalle am Brentanoweg bevorstand, war das nicht für alle Kinder ein Grund zur Freude. Ich fürchtete mich vor dem Moment, in dem unsere Turnlehrerin, Frau Kiesewetter, verkünden würde, dass wir statt der anderthalb Stunden Leibesübungen in unserer miefigen Turnhalle den kurzen Weg zum Brentano-Schwimmbad antreten würden, wo auch die letzten von uns endlich das Schwimmen erlernen und am Ende des Schuljahres den Freischwimmer machen könnten. Zu diesen – wenigen – letzten gehörte ich. Ich hasste es, mich vor meinen Mitschülern nackt auszuziehen und mich in die unansehnliche Badehose zu zwängen, die schon mein großer Bruder getragen hatte. Vor allem aber hatte ich Angst vor dem Wasser.

Todesangst.

Doch es war unvermeidlich. An einem viel zu schönen Vormittag im September trotteten wir mit unseren Turnbeuteln in den Händen hinter Frau Kiesewetter her in Richtung Brentanoweg. Das Bad war an diesem Morgen eröffnet worden, und wir würden zu den ersten gehören, die in das gechlorte Nass stiegen. Als mich meine Mutter geweckt hatte, hatte ich versucht, eine Erkrankung vorzutäuschen, indem ich theatralisch stöhnte und mir den Bauch hielt, aber meine Mutter hatte mich nur angelächelt. „Du kannst nicht jeden Donnerstag krank werden, Clemens“, hatte sie gesagt, meine Bettdecke weggezogen und die hellblaue Badehose bereitgelegt.

Ich ging als letzter hinter meinen Mitschülern und betete stumm dafür, dass die Schwimmhalle einstürzte, bevor wir einträfen. Vor mir lief Margarete Schuster, die von den anderen Mädchen Greta genannt wurde. Wir Jungen hatten keinen besonderen Namen für sie, denn wir sprachen außerhalb des Unterrichts kaum miteinander. Die Mädchen waren für uns wie Zootiere. Es war zuweilen unterhaltsam, sie zu beobachten und ihnen zuzuhören, aber was sie mochten, sprachen und taten, war uns rätselhaft. Umgekehrt schien es genauso zu sein.

Margarete Schuster war ein zierliches, eher schweigsames Mädchen mit dunklen Haaren, die so lang waren, dass sie einen Knoten hineinmachen konnte, und trotzdem reichten die Haare dann bis auf den Rücken. Als ich jetzt hinter ihr ging, war ich verblüfft darüber, dass mir das aufgefallen war. Ich betrachtete Greta, die, anders als der Rest von uns, nicht plapperte wie ein Wasserfall, sondern mit der linken Hand über die Hecke strich, an der sie entlangging, während sie einem Vogel hinterherschaute, der soeben aus einem Baum aufstieg. In diese Beobachtung war sie so vertieft, dass sie gegen eine Mitschülerin stieß, weil die Gruppe angehalten hatte. Der Beutel mit Margarete Schusters Schwimmsachen fiel zu Boden. Ich hob ihn auf und sah dabei Margaretes Füße an, die in schmalen Sandalen steckten. Ich sah ihre Zehen, und ich war plötzlich so ergriffen, nachgerade gerührt von der Schönheit dieser kleinen Zehen, dass ich mich sekundenlang nicht bewegen konnte. Als das schließlich wieder funktionierte, als die Zeit nicht mehr stillstand, war ich irritiert darüber, dass mich die Zehen eines Mädchens in dieser Weise interessierten. Ich zwinkerte.

„Alles in Ordnung mit dir, Clemens?“, fragte Margarete Schuster freundlich und nahm mir den Beutel ab.

Der Gruppe marschierte weiter und überquerte den Zebrastreifen, um auf die andere Seite der Brentanostraße zu kommen. Das Schwimmbad war nur noch ein paar Schritte entfernt. Der Geruch des Bades lag in der Luft.

„Ich habe Angst vor dem Wasser“, sagte ich – und wurde sofort panisch, denn ich hatte soeben einem Mädchen, mit dem ich noch keine zwei Worte gewechselt hatte, ein Geheimnis verraten, von dem bisher nur meine Mutter gewusst hatte, die damals dabei gewesen ist, als ich beinahe in einem Planschbecken ertrunken bin. Ich sah zu Boden und dann wieder zu den Zehen von Margarete Schuster. Wie hinreißend schön die waren, so klein, so wohlgeformt und elegant. Mein Gesicht erwärmte sich.

„Ich auch“, sagte sie leichthin.

Ich sah auf. „Und wie machst du das?“

Greta lächelte mich an. Ihr Lächeln war beinahe so hinreißend wie der Anblick ihrer Zehen. Was war heute nur mit mir los?

„Ich denke an etwas sehr Schönes.“ Sie nahm meine Hand und drückte sie kurz, wobei sie zu unseren Mitschülern blickte, die sich  am Eingang der Schwimmhalle drängten und uns nicht beachteten. Über ihr Gesicht huschte eine leichte Rötung. „Das beruhigt mich dann.“

Eine knappe Viertelstunde später saß ich am Rand des Beckens. Die Luft in der Halle war warm, die Schwimmhilfen aus Styropor rochen ganz neu, aber über allem hing das Aroma vom Chlor. Wir waren nur fünfundzwanzig Kinder, doch die Geräuschkulisse erweckte den Eindruck, als wären hier hunderte von uns. Ich sah zu Margarete Schuster, die neben mir saß und mich in diesem Moment ebenfalls anschaute. Sie hob ihre Füße aus dem Wasser und bewegte die Zehen, als wüsste sie, dass es genau das war, woran ich denken wollte, um meine Angst zu bändigen.

Ich machte meinen Freischwimmer zwei Monate später.

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