Dorrit liest Fluchtgeschichten

Anna Kuschnara – Kinshasa Dreams
Christian Torkler – Der Platz an der Sonne

Es bietet sich an, diese beiden Bücher zusammen vorzustellen, denn sie haben das gleiche Thema: Die Flucht des Protagonisten in eine bessere Welt.

In Anna Kuschnaras Kinshasa Dreams ist es Jengo, der sich aus Kinshasa nach Europa aufmacht. In seiner Familie gilt er als Hexenkind, und als mit seinem Großvater der letzte Mensch stirbt, der seine Hand schützend über ihn hält, wird die Situation für ihn sehr schwierig. Als er auch noch zufällig erfährt, dass seine Mutter, die eines Tages einfach verschwand, es nach Paris geschafft hat, hält ihn nichts mehr in Afrika. Er macht sich auf den Weg, mit etwas Geld und der Idee, als Boxer in einer besseren Welt überleben zu können. Diesen Wunsch hat sein Großvater in ihm geweckt, der ihm viel über den legendären „Rumble in the Jungle“ erzählte. Jengo braucht zwei Jahre, um Paris zu erreichen und ist während der Flucht nicht nur einmal nahe dran, seinen Traum zu begraben, weil er – statt zu trainieren oder voranzukommen – in einem Islamistencamp landet und später in Kairo arbeitet, weil ihm das Geld ausgegangen ist. Endlich gelingt ihm die Überfahrt, und in Paris beginnt er gar zu boxen. Aber er bleibt ein Illegaler und findet sich schließlich nach einer Abschiebung in Kinshasa wieder. Dort ist nichts besser geworden, seit er fort ging, und deshalb macht er sich erneut auf den Weg, um der Armut und Perspektivlosigkeit zu entkommen.

Jengo flieht nicht vor Krieg und Repressalien, sondern vor Armut und Perspektivlosigkeit. Das Buch erzählt die Geschichte von einem, der nicht aufgibt, nach einem Ort zu suchen, an dem er eine Chance hat.

Christian Torkler erzählt in Der Platz an der Sonne eine ebensolche Geschichte, doch sein Ausgangspunkt ist ein Gedankenexperiment. Was wäre, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre und nicht Europa, sondern Afrika der florierende Kontinent wäre? Bei Torkler gab es in den 50er-Jahren einen dritten Weltkrieg. Europa zerfiel in kleine Staaten, in denen es keine Demokratie und keinen Wohlstand gibt. Afrika ist der Sehnsuchtsort, der reiche, gut organisierte Kontinent. Dorthin zieht es die Europäer, die es leid sind, sich in ihren von Korruption beherrschten Ländern abzuschuften und mit anzusehen, wie sich andere an ihrer Arbeit bereichern. Im ersten Teil des Romans versucht Torklers Held Brenner, sich zu Hause durchzuschlagen: Er lebt in dem immer weiter verfallenden Berlin und schuftet in jeder freien Minute, um sich die Papiere für eine eigene Bar leisten zu können, die er mit Schmiergeld bezahlen muss. Ein politischer Machtwechsel in der Neuen Preußischen Republik bringt für ihn und seinesgleichen keine Veränderung. Doch seine Bar läuft gut, und eine Weile lang ist eine Flucht nach Afrika keinen Gedanken mehr wert.

Die Parallelen zu afrikanischen Zuständen sind offensichtlich. Torkler hat lange in Afrika gelebt, und vieles von dem, was er beschreibt, ist ihm sicher in der einen oder anderen Form begegnet. Das Gedankenexperiment ist interessant, womöglich aber auch nur aus der sicheren Perspektive des Wohlstands: Was wäre, wenn wir Europäer in eine solche Welt geboren würden? Brenners Antwort ist nach einigen Schicksalsschlägen klar: Er macht sich auf in den gelobten Süden, aus dem ein Freund ihm eine begeisterte Postkarte geschrieben hat. Brenner braucht fast zwei Jahre, ehe er seinen Freund findet, und dann sieht alles doch viel weniger rosig aus, als er es sich vorgestellt hat. Es gibt für ihn dort keinen Platz, an dem er eine faire Chance bekommt.

Die beiden Bücher könnten unterschiedlicher nicht sein, Kuschnarowas Buch ist ein Jugendbuch, das sich – so lassen es Widmung und Danksagung vermuten – an eine wahre Geschichte anlehnt. Torkler richtet sich mit seinen knapp 600 Seiten an ein erwachsenes Publikum und erzählt eine Geschichte, die auf einer der Urfragen des Schriftstellers beruht: Was wäre wenn …? Doch in beiden Büchern wird der abstrakte politische oder wissenschaftliche Begriff Migration zur Geschichte eines Menschen, der nichts anderes will als ein Leben mit Perspektive ‒ unabhängig davon, wo er geboren wurde.

Ihre

Dorrit Bartel

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