Dorrit liest: Gaël Faye – Kleines Land

Gaël Fayes Roman Kleines Land wurde 2016 in Frankreich sehr gefeiert und erhielt den Prix Goncourt des Lycéen – einen Preis, über deren Vergabe französische Schüler entscheiden. Davon wusste ich noch nichts, als ich es in die Finger bekam und meinte, ein irgendwie harmloses Buch über irgendwo in Afrika zu lesen.

Schon der Prolog belehrte mich eines Besseren. Ein Vater versucht, seinen Kindern zu erklären, warum es Schwierigkeiten zwischen Hutus und Tutsis gibt. Eine nachvollziehbare Erklärung gibt es nicht, es scheint, es hat etwas mit Nasen zu tun. Später fragt sich der Sohn Gaby, Ich-Erzähler in Fayes Buch, wann dieser Hutu-Tutsi-Ärger eigentlich angefangen hat. Doch er erinnert sich nicht mehr an den Anfang. Das liegt vielleicht daran, dass sich dieser Ärger schleichend in sein Leben gestohlen hat, vielleicht aber auch daran, dass der Hutu-Tutsi-Ärger schon lange Zeit vor Gabys Geburt entstand. Die Deutschen sind übrigens nicht ganz unbeteiligt an der Entstehung dieses „Ärgers“, aber das nur nebenbei – es spielt in Gabys Wahrnehmung keine Rolle. Ich finde solche Zusammenhänge  interessant, weil sie zeigen, dass Afrika eben nicht nur weit weg ist und seine Probleme einfach nicht in den Griff bekommt, sondern sich auch schon lange mit den Ansprüchen von z. B. Europäern und den Folgen der Kolonialisierungspolitik auseinandersetzen muss.

Heute ist Gaby über dreißig und lebt schon lange in Frankreich. Sein heutiges Leben bildet den Rahmen für die Geschichte seiner Kindheit, deren abruptes Ende ihm keine Ruhe lässt. Gaby erinnert sich an seine Familie und an die Freunde in seiner Straße. Die nicht in Ruanda liegt, wie der Hutu-Tutsi-Ärger vermuten lässt, sondern in dem kleinen Land daneben, in das sich immer wieder Millionen von Flüchtlingen aus Ruanda retteten. Gabys Mutter zum Beispiel kam in den 1970er-Jahren nach Burundi, doch sie fühlt sich noch immer fremd. Auch die Ehe mit Gabys Vater, einem Franzosen, hilft nicht gegen das Unglück, in der Fremde zu sein. Die Ehe der Eltern ist am Ende, doch Gaby und seine Freunde haben eine gute Zeit, über die sich – zunächst selten, dann immer häufiger – die Schatten bevorstehender Unruhen legen. Im April 1994 stirbt bei dem Attentat auf das Flugzeug des ruandischen Präsidenten nämlich nicht nur dieser, sondern auch der burundische Präsident, der in derselben Maschine saß. Und in der Folge herrscht nicht nur in Ruanda Bürgerkrieg, auch in Burundi sind die Auswirkungen dieses Attentats zu spüren. Die Erwachsenen werden verzweifelter, und die Freunde verlassen Hals über Kopf das Land. Wie schließlich auch Gaby, der in Frankreich zwar Sicherheit findet, aber keine Heimat. Dort beschwört er Erinnerungen an seine Kindheit herauf, die glückliche Zeit, von der ihm nichts geblieben ist.

Gaël Faye erzählt diese Geschichte in einem kindlich-unschuldigen Ton, in den sich fast unmerklich die Grausamkeit der Umstände schleicht. Der erwachsene Gaby hingegen ist distanziert und abgeklärt, ein Heimatloser, der, von seinen Wurzeln abgeschnitten, angepasst in einer Welt lebt, die nicht die seine ist.

Das ist berührend und alles andere als harmlos.

Ihre

Dorrit Bartel

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