Dorrit liest: NoViolet Bulawayo – Wir brauchen neue Namen

Paradise und das gelobte Land

Für ihren autobiografischen Roman erhielt NoViolet Bulawayo 2014 den Hemingway Foundation PEN Award. Sie stand außerdem mit diesem Roman auf der Shortlist des Man Booker Prize und auf der Shortlist des Internationalen Literaturpreises des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin. Und das alles vollkommen zu Recht.

Bulawayo ist nicht der richtige Name der Autorin, sie gab ihn sich in Erinnerung an die Stadt, in der sie aufwuchs, nämlich in der zweitgrößten Stadt Simbabwes. Weder Stadt noch Land werden namentlich genannt, doch vermutlich lebt Bulawayos Romanheldin Darling in Bulawayo. Als kleines Kind wohnte sie mit ihren Eltern in einem richtigen Haus, doch dann fand der Vater trotz seines Studienabschlusses keine Arbeit. Er ging nach Südafrika zum Geldverdienen, und Darling zog mit ihrer Mutter in eine Blechhüttensiedlung namens Paradise. Dort spielt der erste Teil des Romans, in dem wir die zehnjährige Darling und ihre Freunde durch ihren Alltag mit all seinen Facetten begleiten: Auf Beutezug in das Nachbarviertel Budapest, in dem es richtige Häuser gibt und vor allem Guavenbäume, von denen Darling und ihre Freunde sich bedienen, weil es an manchen Tagen das Einzige ist, womit sie ihren Hunger stillen können. Wir sind bei Darling, wenn sie sich ihrem Vater annähert, der ohne Geld, aber mit „der Krankheit“ aus Südafrika zurückgekommen ist. Wir sind dabei, wenn Darling und ihre Freunde mit einem Kleiderbügel dafür sorgen wollen, dass die elfjährige Chipo, die von ihrem Großvater geschwängert wurde, das Baby loswird. Das alles erzählt Bulawayo mit einer ganz eigenen, kindlichen Stimme, die klingt, als würde Darling noch nicht immer begreifen, was gerade geschieht. Und doch schwingt da schon leise das Begreifen mit, das eines Tages über sie kommen wird. Denn Darling sieht zu viele Dinge, die ein Kind nicht sehen sollte.

Ich bin in Vierteln wie Paradise gewesen, Blechhüttensiedlungen, in denen zu viele Kinder nicht genug zu essen haben, in denen es nicht genug Wasser zu trinken gibt und Sauberkeit wegen des Wassermangels eine sehr untergeordnete Rolle spielt. In Mondesa, einem Stadtteil von Swakopmund in Namibia, stand ich in einer größeren Blechhütte, in der eine Frau Kindern mit einfachsten Schulmaterialien ein wenig lesen, schreiben und rechnen beibrachte, weil das besser sei, als wenn sie gar nichts lernten. Die Schule hatte die Frau mit ein paar anderen Erwachsenen errichtet, weil es sonst für diese Kinder keinen Ort gab, an dem sie lernen konnten. Nachmittags bastelte sie Schmuckstücke, die sie an Touristen verkaufte, um mit den Erlösen Papier und Stifte zu kaufen. Mich traf dort eine tiefe Hoffnungslosigkeit: Wie soll es möglich sein, all diesen Kindern so etwas wie Zukunft zu geben?

Manche Leute sagen, man solle Viertel wie Mondesa nicht besuchen, weil es ein bisschen sei, als würde man in einen Zoo gehen. Ich bin auch jedes Mal unsicher. Doch die Menschen haben sich oft gefreut, wenn ich sie fragte, ob ich ein Foto von ihnen machen dürfe. Ich habe der Lehrerin ein Paar Ohrringe abgekauft, die ich bis heute trage, und hoffe, sie hat für die Dollars, die ich bezahlt habe, ein paar Stifte und Hefte bekommen – in solchen Vierteln kann man ja nicht einfach in eines von zahlreichen Geschäfte gehen und kaufen, was man braucht. Ich bin froh, gesehen, gerochen, gespürt zu haben, wie Leben sich dort anfühlt, auch wenn es nur einen flüchtigen Moment lang war. Danach bin ich – gesichert mit einem deutschen Pass und einer Kreditkarte – wieder zurückgekehrt in mein komfortables Leben. Doch mir sind ein paar Gesichter geblieben, reale Menschen mit stolzen, lächelnden Gesichtern gegen eine anonyme Masse, die in den Nachrichten gern unter dem Begriff Armut zusammengefasst wird.

Dank NoViolet Bulawayo habe ich jetzt auch eine Stimme und eine Geschichte dazu. Eine, die auch von NGOs erzählt, die nach Paradise kommen und Geschenke verteilen, denen sich nur Darlings Großmutter verweigert. Die Kinder freuen sich über T-Shirts und Spielzeuggewehre, mit denen sie gleich auf den abfahrenden NGO-LKW zielen, in dem der Mann sitzt, der ungefragt zu viele Fotos von ihnen gemacht hat.

Manchmal bekommen diese Kinder eine Chance. So wie Darling. Mit achtzehn verlässt sie ihre Heimat und zieht zu ihrer Tante in die USA. Ins gelobte Land? Immerhin hat sie keinen Hunger mehr und ist jetzt sauber gekleidet. Doch es gibt vieles, was sie an ihrem neuen Zuhause nicht versteht oder nicht mag. Die Kälte im Winter. Die Einheimischen, die sich wenig Mühe geben, das Amerikanisch der Zugewanderten zu verstehen. Die Jobs, für die sich die Einheimischen zu fein sind, doch wer illegal arbeitet, hat keine Wahl. Außerdem ist da auch noch das Heimweh.

Ich musste das Buch zwischendurch immer wieder schließen, um Atem zu holen und nachwirken zu lassen, was die Autorin mit unschuldiger Stimme erzählt. Dann sah ich sie: Die Kinder in Paradise, die dort allen Umständen zum Trotz ein Zuhause haben, nach dem sie sich später sehnen werden – auch wenn sie die erste Gelegenheit wegzugehen ergreifen, denn wahrscheinlich wird es ihre einzige sein. Ich spürte ihre Einsamkeit in der Fremde, in der sie nie wirklich heimisch werden. Vielleicht hilft es, wenn ihre Stimmen und Geschichten gehört werden. Deshalb wünsche ich diesem Buch sehr, sehr viele Leserinnen und Leser.

Ihre Dorrit Bartel

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