Ein Tourist in der Stadt der Toten

Ein Beitrag von Jörg Lingrön

Es ist der 28. Juni 2019. Während sich Berlin bei kühlen 24 °C von den heißen Tagen erholt, laufe ich bei 32 °C in Paris eine 300 Meter lange Mauer entlang. Fünf Jahreszahlen und tausende Namen stehen auf ihr. Ich denke an Verdun, an Erich Maria Remarque, und mir wird plötzlich bewusst, dass es mir bisher viel zu selbstverständlich war, als deutscher Tourist im Ausland meist willkommen zu sein. Mein Fotorucksack drückt wie ein Sturmgepäck. 32 °C sind nicht mehr angenehm.

An einem Trinkwasserspender, um den sich die Tauben scharen, mache ich mein Schnuffeltuch nass und lege es mir auf den Kopf. Die Erfrischung reicht keine Zigarettenlänge. Was ich mir in diesem Moment vom weltweit ersten als Park angelegten Friedhof erhoffe, ist vor allem Schatten.

Am Eingang zu „Le Cimetière du Père-Lachaise“ stehen verschiedenste Touristengruppen. Ich schlängle mich an ihnen vorbei und stehe auf der „Avenue Principale“, einer breiten, asphaltierten Allee, die um diese Uhrzeit, fast schattenlos, schnurgerade zwischen den Grüften verläuft. Das Ganze erinnert eher an eine Eigenheimsiedlung als an einen Friedhof. Nicht nur, dass die Allee im schönsten Sonnenschein vor mir liegt, steigt sie auch die ganze Zeit leicht an. Zum Glück sind es nur 240 Meter,  bis man vor dem „Monument aux morts“  steht und sich fragt: Ist das jetzt die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies oder das Tor zur Hölle? Wenigstens ist es hier jetzt endlich schattig. Ich lasse das Monument etwas auf mich wirken, versuche bei dem harten Licht ein paar Fotos zu schießen und lasse meinen Blick dann etwas resigniert zwischen der rechten und der linken Treppe schweifen. Wer weiter möchte, muss sich entscheiden. Ich möchte weiter. Wenn ich schon auf diesem Friedhof bin, muss ich auch bei Jim vorbei gucken. Division 6 ist seine aktuelle Adresse, also rechts. Oben werden die Wege schmaler und schlängeln sich um Bäume und Gräber. An einem Wasserhahn mache ich eine Pause, um mir wieder mein Tuch mit frischem Nass um die Stirn zu wickeln. Die Pariser nennen ihren Friedhof wohl auch „La cité des morts“, die Stadt der Toten, und genau das trifft es auch ganz gut. Allein durch die vielen Türen wirken die Grüfte wie Häuser. Von pompösen Villen bis kleinen Katen ist alles vertreten. Die Bewohner machen in der Mittagshitze Siesta, und ein paar Touristen laufen durch die leeren Straßen und Gassen. Ein verwirrter Professor in schwarzem Anzug kommt auf mich zu und ruft ständig Namen von Verstorbenen, während er jeweils wild gestikulierend in unterschiedliche Himmelsrichtungen zeigt. Ich zeige stolz meinen Plan vom Friedhof, und er stürzt sich auf das nächste Pärchen.

Förmlich auf einem Hinterhof steht eine Gruppe vor einem Bauzaun. Ein Blick auf meine Karte – ja, da ist er also. Ich warte etwas abseits und google in der Zwischenzeit, warum hier alles voller Kaugummis klebt. Das kann jetzt nicht wirklich der Ernst sein! Diese keimreichste Touristenattraktion gibt es nur, weil Jim Morrison Amerikaner war? Wie plump ist das denn? Wäre er Russe, würden hier jetzt lauter Matrjoschkas stehen. Ich glaube, da hat sich Jim The End ganz anders vorgestellt. Schöne neue Welt. Eine Platane, von einer Strohmatte umwickelt, damit die Fans ihre Kaugummis loswerden können. Praktisch, denn wenn sie voll ist, wird sie einfach durch eine neue Matte ersetzt. Werden die alten Strohmatten eigentlich gesammelt oder einfach vernichtet? Volle Gästebücher werden schließlich auch aufgehoben. Irgendwie stimmt es mich traurig, und als ich endlich einen richtigen Blick über die Absperrung auf das kleine Grab in der zweiten Reihe werfen kann, erreicht die Traurigkeit ihren Höhepunkt. People are strange when you’re a stranger.

Ich werfe einen Blick auf meine Karte, suche nach dem Grab von Edith Piaf und mache mich auf den Weg. Bei Jim drängeln sich schon wieder die nächsten Gruppen um einen Platz am Bauzaun. Während ich weitergehe, bestimmen Wasserhähne meine Pausen. Ich komme an den Mahnmalen für die in deutschen Konzentrationslagern Verstorbenen vorbei. Auschwitz, Sachsenhausen, manche Orte kenne ich nicht einmal und schäme mich dafür.

Edith Piaf ruht in einer aufgeräumten Randsiedlung mit jungen Bäumen, die wenig Schatten spenden. Nur ein asiatisches Pärchen steht vor dem schweren, flachen Granit-Sarkophag, auf dem mit goldener Schrift „Famille GASSION-PIAF“ zu lesen ist. Während mir der Schweiß in die Augen läuft, erinnere ich mich an eine Nacht im Februar 1988. Es war kalt, Kerzen brannten, es gab viel Rotwein, und auf dem Plattenspieler lief die ganze Zeit die AMIGA-LP von Edith … Eine Nacht voller Sehnsucht und Melancholie und immer wieder Dans leur baiser.

Die vielen Raben auf dem Friedhof waren mir schon vorher aufgefallen, aber erst als ich weitergehe und die Gräber und Grüfte wieder älter werden, bekommt der Ort durch sie plötzlich eine Edgar-Allan-Poe-Stimmung. Aber ihn werde ich hier nicht finden. Stattdessen stehe ich vor einer riesigen Sphinx. Jedenfalls will mir das der Reiseführer weismachen. Für mich ist es eindeutig ein Engel mit Penis, und das Ganze erinnert mich an den jämmerlichen Vorfall von 2010, als jemand auf dem Bornstedter Friedhof vom Familiengrab der Eltern von Herrn Joop dem Engel den Penis abschlug. Der Engel von Oscar Wilde befindet sich hinter einer großen Glasscheibe. Das liegt aber nicht an seinem kleinen Penis, sondern an den wahren Fans, die sonst das ganze Grab mit Lippenstift verzieren würden. Neben dem Grab steht darum auch ein Schild, dass man doch bitte davon ablassen möchte, da die Kosten für die Reinigung von der Familie des Verstorbenen getragen werden. Fans waren noch nie sehr rücksichtsvoll, und so ist auch die Scheibe schon wieder bedeckt. Aber Glasreiniger ist wohl preiswerter als die Reinigung eines großen Engels aus Sandstein.

Auf einmal kommt mir der verrückte Professor von vorhin entgegen. Er hat sich an ein Ehepaar geheftet, das er mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit über den Friedhof jagt. Grab, Name, auf zum nächsten. Dem Ehemann sieht man seine Unlust schon deutlich an, er japst eigentlich nur noch seiner Frau hinterher, während diese, vielleicht nur aus aufgesetzter Höflichkeit, mit dem Professor Schritt zu halten versucht.

Ich suche einen Wasserhahn, und dann geht es weiter zur Division 48. Hier befindet sich das Grab von Honoré de Balzac. In der Schule musste ich Vater Goriot lesen, während ich zu Hause als Pubertier Die tolldreisten Geschichten verschlang. Honoré schaut selbstbewusst auf mich herab und auch auf die Gruppe Studenten aus aller Welt, die offensichtlich einen Sprachkurs belegen. Die Lehrerin zieht einen Zettel aus ihrer Tasche, den irgendein Freiwilliger laut vorlesen soll. Plötzlich interessieren sich alle nur für ihre Schuhe, und wer hochsieht, hat verloren. Der Verlierer beginnt laut zu lesen und wird sofort und ständig in der Aussprache verbessert. Bevor es für ihn noch peinlicher wird, mache ich zwei Fotos von Honoré und gehe langsam Richtung Ausgang.

Der Friedhof ist beeindruckend. Das kann ich mir danach an einem schattigen Plätzchen bei kaltem Orangensaft eingestehen. Unwahrscheinlich viele stimmungsvolle Gräber und Figuren. Gerade im Herbst stelle ich ihn mir traumhaft mystisch vor. Bei über 30 °C hab ich leider zu oft auf Schatten und Wasserhähne geachtet. Ich habe Treppen vermieden, die ich sonst vielleicht gegangen wäre, und ärgere mich schon jetzt, dass ich so viel von diesem Friedhof immer noch nicht gesehen habe. Ich tröste mich mit der Tatsache, dass Paris ja eigentlich nicht so weit weg ist, und habe im Hinterkopf so viele Orte, die ich noch nicht gesehen habe, und mir wird bewusst, wie kurz ein Leben doch eigentlich ist – und dass ich schon ganze fünf Jahre älter bin, als Edith je wurde. Und dann ist sie wieder da, diese süße Melancholie, die keinem Unglück gleicht, sondern eher einer Sehnsucht. Der Summe des Verpassten, den unendlichen Möglichkeiten, die vor mir liegen, und dem Moment, der auch aus Glück besteht. Glück, dass ich hier in Paris bin und das Leben spannend ist, auch mit den Toten.

Ihr Jörg Ligrön

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