Erst lesen, dann schreiben

Gutes Schreiben setzt – vereinfacht gesagt – zwei Dinge voraus: Inspiration und Handwerk.

Wer keine Inspiration hat, der schreibe bitte kein Buch. Danke.

(Siehe auch http://zweiundvierziger.de/Wordpress_Verein/?p=208)

Wer Inspiration hat, der lerne, diese umzusetzen. Doch wie in Teufels Namen soll einer schreiben lernen, der zu alt oder zu untalentiert ist, um am Deutschen Literaturinstitut Leipzig zu studieren? Bleibt nur die Volkshochschule? Ein Schreibkurs? Oder einfach „Versuch und Fehler“?

Es gibt „Kollegen“, die tun letzteres. Ich meine die echten Leseverweigerer. Die Fundis. Die immer gleich esoterisch werden, wenn man fragt, wie sie zu ihren Texten kommen. Die nicht lesen wollen, da sie fürchten, es könne ihren „Stil“ verwässern, und es müsse ja sowieso alles „aus einem selbst kommen.“ Man möchte ihnen entgegenrufen: „Behalt es drinnen!“ Also, schreiben in völliger Unkenntnis der vorhandenen Literatur, das ist schon ziemlich abstrus. Wie kommt man bloß darauf?

Die veröffentlichten Autoren, die ich kenne, lesen ausnahmslos sehr viel, und behaupten, Handwerk könne man lernen. Wie im Übrigen Heerscharen von Gas-Wasser-Installateuren belegen. Nicht jeder lernt gleich gut und gleich schnell. Ok, auch nicht jeder lernt wirklich alles. Geschenkt. Aber ein verstopftes Klo reinigen – das kann am Ende auch der Dümmste.

Wie soll das jedoch vonstattengehen, wenn es sich um Romane handelt?

Wählen Sie zunächst ein beliebiges Buch aus. Am besten eines, das Ihnen gefallen hat. Muss aber nicht.

Nehmen wir zum Beispiel den Roman „wenn nicht, dann jetzt“ von Edgar Rai. Einer knappen Handvoll Leuten gefiel er wohl ganz gut. Mir auch. Ich begann, darin zu lesen, und merkte irgendwann, dass ich nicht mehr aufhören wollte. Ein gutes Zeichen. Auf der Stelle verweigerte ich mich dem Sog der Handlung, dem Mitleiden mit den Figuren, dem hastigen Umblättern, um zu erfahren, wie es weitergeht. Ich ließ den Genuss Genuss sein und wagte einen Blick hinter die Kulissen.

Zunächst nahm ich mir den Protagonisten vor. Schnell war klar, dass er drei wichtige Bedingungen erfüllt: Erstens, er ist völlig am Ende. Bereit für den Selbstmord. Es sei denn – tja, es sei denn, er schafft es, sein Ziel zu erreichen. Also zweitens: Er will etwas. Drittens: Wir halten es für möglich, dass er Erfolg hat. Schon ist der Leser am Haken. Der Mechanismus „Hoffnung“ füllt Woche für Woche ganze Stadien, und zwar weltweit. Das kann kein Zufall sein. Von Edgar Rai kann man also lernen, wie Spannung funktioniert. Der gute Mann kehrt die Lesererwartungen ständig in ihr Gegenteil um, immer wieder. Im letzten Drittel des Romans weiß man überhaupt nicht mehr, woran man ist. Und dann, auf der vorletzten Seite – ja, da wird man dann endlich erlöst. Die Erwartung wird erfüllt – bzw. nicht erfüllt – bzw. – … das verrate ich nicht. 😉

Werfen wir einen Blick auf die anderen Figuren. Nahezu alle von Ihnen haben eines gemeinsam: Sie stehen den Absichten unseres Protagonisten entgegen. Sie bekämpfen ihn. Direkt und indirekt. Aus diesen Konflikten entspinnt sich Aktivität, die Handlung des Romans nimmt ihren Lauf. Wir halten also fest: Nicht der Autor bestimmt die Handlung, sondern die Figuren. Aber: Der Autor darf sich die Figuren ausdenken – besser gesagt: Er muss.  Auch das kann man von Edgar Rai lernen. Man kann es auch in einem der Ratgeber ausformuliert nachlesen, aber dann entgeht einem der ganze Spaß des Selberdenkens.

Das Praktische an einem Text ist ja, dass man nichts darin verstecken kann. Es steht alles da. Und es lohnt sich, genau hinzusehen. Etwa in die Dialoge, die eine gute Gelegenheit sind, dem Leser Figurenzeichnung unterzujubeln. Rai hat einen Lieblingstrick, um Figuren plastischer, anschaulicher zu machen und dafür zu sorgen, dass sie einprägsam sind. Er gibt ihnen einen „Lieblingsausdruck“. Eine mehr oder weniger originelle Phrase, die sie immer wieder benutzen, sodass sie zu ihrem Markenzeichen wird. Wenn Sie das beim Schreiben versuchen, werden Sie merken, wie nahe Ihnen die eigenen Figuren plötzlich sind.

Natürlich gibt es unzählige Möglichkeiten, Figuren zu konturieren. Und es gibt auch nicht nur eine Möglichkeit, Spannung zu erzeugen. Haben Sie einen Lieblingsschriftsteller? Haben Sie schonmal nachgeschaut, wie er/sie es schafft, Sie an den Text zu fesseln? Gibt es Dinge, die im Text Ihnen nicht gefallen? Und wissen Sie auch, warum sie Ihnen nicht gefallen? – Finden Sie es heraus!

Lesen Sie. Bewusst. Schauen Sie hinter die Kulissen. Tun Sie so, als stünde jeder Satz, jedes Wort mit Absicht dort, wo es steht. Fragen Sie sich, welche Funktion es hat. Sie werden viel Spaß haben. Und nebenbei schreiben lernen.

Ihr Christoph Junghölter

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