Es kann immer passieren – Tom Liehr im Gespräch mit 42erAutorin Ulrike Renk – Teil 2

TL: Zu den wunderbaren Vorteilen dieses Jobs gehört es, dass man seine Meinung über die Welt, bestimmte Geschehnisse, die Geschichte und ihre Protagonisten vermitteln kann – und dafür auch noch Geld bekommt. Nutzt du diese Freiheit? Ist sie dir wichtig? Und wenn ja – inwiefern?

UR: Ja, das ist mir wichtig. Die Ostpreußensaga und auch jetzt die Seidenstadttrilogie handeln von Menschen, die gelebt, geliebt und gelitten haben. Vor allem haben sie unter dem Regime und der Politik gelitten. Ich darf diese Geschichten erzählen und sie so mit der heutigen Generation teilen. Ich freue mich immer wieder, wenn ich Feedback bekomme und LeserInnen mir mitteilen, dass sie aufgrund meiner Bücher nachgeforscht haben, sie ein etwas besseres oder sogar anderes Geschichtsverständnis haben.

Geschichte darf nicht vergessen werden, vor allem weil sich gruselige Teile der Geschichte immer und immer wiederholen.

So etwas, wie das Dritte Reich darf niemals mehr passieren. Dennoch gibt es heute Tendenzen, die an das Ende der Weimarer Republik erinnern.

Darauf möchte ich aufmerksam machen und es an einzelnen Familien aufzuzeigen, die tatsächlich lebten. Das macht es um einiges plakativer und manchmal auch begreifbarer. Es ist allerdings auch mächtig schwieriger, so etwas zu schreiben – da ich weiß, was mit den Familien passiert ist. Wenn man sich eine Geschichte ausdenkt, kann man die Dramaturgie lenken und für sich nutzen; wenn man über das wahre Leben schreibt, ist das nicht so möglich. Da hat halt Tante Mimi so gehandelt und Onkel Werner sich so verhalten – manchmal völlig undenkbar, und jeder Leser würde einen für Wendungen und Irrungen des Schicksals abwatschen. Aber Thruth is stranger than fiction. Und das wahre Leben schreibt manchmal merkwürdige, lustige, allerdings auch sehr traurige Geschichten.

Irgendjemand hat mal gesagt: „Solange man an eine Person denkt, ist sie nicht gänzlich tot und vor allem nicht vergessen.“

Ich darf einige Leben in Gedanken somit verlängern – bzw. die Gedanken an die Personen, an ihr Schicksal, an ihr Leben, ihre Liebe, ihr Leiden. Sie werden vorerst nicht vergessen, und ich weiß, meine Protagonisten würde das freuen.

TL: Ich weiß von vielen Kollegen – und auch von mir selbst –, dass sie zu jedem Zeitpunkt ihrer Karriere starke Selbstzweifel hegen, dass sie glauben, irgendwann als Scharlatane entlarvt zu werden, als jemand, der eigentlich nur so tut, als wäre er Schriftsteller. Ging es dir auch so? Und ist das jetzt, nach dem Ritterschlag der Bestsellerliste, anders geworden?

UR: Ja, manchmal geht es mir so. Manchmal bekomme ich Leserbriefe oder Mails, in denen steht: „Ich habe alle Ihre Bücher gelesen und liebe sie!“ Dann denke ich kurz: „Ach, du bist das …“

Natürlich gibt es Momente, an denen ich vor dem Manuskript sitze und schreibe und dann glaube, das wird einfach kein Schwein interessieren. Oder dass ich glaube: „Ulli, das ist sooo schlecht, deine Lektorin wird dir das um die Ohren hauen.“

Eigentlich ist das durch den von dir so bezeichneten „Ritterschlag“ nur schlimmer geworden. Zuerst.

Ich habe mit der Ostpreußensaga so viele Leute erreicht, viele auch berührt. Mir war von Anfang an klar, dass das bei der neuen Trilogie anders sein würde. Ostpreußen, die Güter – viele Menschen haben da einen Identifikationshintergrund, sei es „Omma“, die geflohen ist, der Onkel, der Schwiegervater oder seien es wenigstens Bekannte oder Nachbarn. Ostpreußen hat einen Heimat- und Sehnsuchtsfaktor: Das war die wirklich, heile Welt – damals. Das stimmt so sicherlich nicht, aber viele fühlen es so.

Und gerade weil meine Saga auch die negativen Punkte, das Schlimme, erzählt, bekomme ich viel Feedback: Ja, so hat es Omma, Onkel Heinz usw. auch erzählt.
Das ist natürlich bei einer jüdischen Familie vom Niederrhein nicht so, da fehlt die Identifikation. Es gibt kaum noch Überlebende des Holocaust, und kaum einer lebt in Deutschland. Die Juden, die wieder in Deutschland leben, haben meist einen ganz eigenen Blick auf die Geschichte.
Dennoch wird das erste Buch bisher gut gelesen und bekommt viel Feedback. Und es war auf der Liste – allerdings nicht in den Top Twenty. Möglicherweise ist es noch in den vierziger Rängen, das weiß ich gerade nicht.
Ich habe versucht, mich davon freizumachen, an den Erfolg anzuknüpfen oder ihn sogar zu toppen. Ich möchte einfach nur diese Geschichte erzählen – als die Scharlatanin und Autorin, die ich bin.

TL: Musiker, die die Charts erobert haben, bekommen von ihren Plattenfirmen nicht selten Freibriefe, können fortan tun und lassen, worauf sie Lust haben – Hauptsache, es lässt sich auf Platten pressen oder als Download formatieren. Mit Bestsellerautoren ist das nicht anders. Einige machen sogar „N.N.-Verträge“, verkaufen also Manuskripte, von denen es noch nicht einmal Arbeitstitel gibt. Wie ist es bei dir? Hat sich in dieser Hinsicht dein Verhältnis zum Verlag geändert?

UR: Mein Verhältnis zum Verlag ist natürlich im Laufe der Jahre immer besser geworden. Ganz sicherlich auch deshalb, weil ich erfolgreicher geworden bin. Eine Autorin wie mich wollen sie halten. Und deshalb gibt es auch „N.N.-Verträge“. Natürlich kann ich jetzt kein Telefonbuch schreiben und der Verlag würde es veröffentlichen. Aber grundsätzlich wollen wir weiter zusammenarbeiten, und die Verträge geben mir natürlich eine gewisse Sicherheit, die ich sehr schätze.

Und ich bin fest davon überzeugt, dass ich über die nächste spannende, erzählenswerte, berührende Geschichte stolpern werde.

Allerdings werde ich 2020 auch wieder das Genre wechseln und einen zeitgenössischen Roman schreiben – eine Geschichte, die ich schon immer erzählen wollte. Darauf freue ich mich sehr.

TL: Eine letzte Frage. Wo siehst du dich als Autorin in, sagen wir, zehn Jahren?

UR: In zehn Jahren bin ich hoffentlich noch am Leben und erfreue mich guter Gesundheit. Da ich vor einigen Jahren an Krebs erkrankte, ist das immer das Wichtigste irgendwie, und deshalb mache ich auch keine Pläne in so ferner Zukunft.

Ich möchte auf jeden Fall weiter schreiben, freue mich auf neue Projekte.

Und ja – ich bin nicht völlig uneitel, ganz im Gegenteil – ich wäre sehr gerne wieder auf der SBL, das wäre schon ziemlich geil.

Und es gibt einen Punkt, über den wir noch nicht so wirklich gesprochen haben – ich möchte ihn ansprechen: Normalerweise, wenn man mehrere Bände schreibt, ist man – mit Glück und Spucke – mit dem ersten Band am erfolgreichsten. Die weiteren Bände verkaufen sich meist nicht so gut.

Dafür gibt es sogar Algorithmen, hat mir mal jemand gesagt – ich weiß aber nicht, ob das stimmt.

Es ergibt aber Sinn – der erste Band zieht Käufer an, ein Teil findet das Buch gut, ein Teil nicht, das ist immer so. Diejenigen, die das Buch gut fanden, kaufen den zweiten Teil – dann gibt es wieder welche, die das Buch nicht sooo gut fanden und den dritten Band nicht kaufen. Natürlich gibt es auch immer Leute, die erst den zweiten Band kaufen oder gar den dritten und dann die anderen nachholen. Aber normalerweise entscheidet der erste Band über den Erfolg einer Serie.
Bei der Ostpreußensaga war das anders. Der dritte Band ist in die SBL geschossen. Er hat dann natürlich die Vorgänger mitgezogen. Was unerwartet war und wunderbar.

Und das möchte ich anderen Autoren mitgeben: Es kann IMMER passieren, mit jedem Buch. Jedes Buch, das gut und mit Herzblut geschrieben ist, kann erfolgreich werden.

Es gibt tausende von Ratgebern, wie man zu einem Bestseller kommt, es gibt Prognosen, es gibt Algorithmen, es gibt Berechnungen – und alles kann falsch sein. Glaubt an euch und an eure Bücher. Haltet euch manchmal für Scharlatane – Zweifel sind nie verkehrt, wenn sie nicht überhandnehmen.

Ich habe lange Jahre geschrieben und die Midlist bedient – das war völlig in Ordnung. Vermutlich werde ich das auch wieder. Vielleicht gelingt mir noch der ein oder andere Erfolg – aber wer will schon immer den Oskar gewinnen? Ich finde solide, gute Arbeit, die einen zufrieden macht, fast besser, als immer von einem Gipfel zu anderen zu hüpfen – der Druck nimmt nämlich zu, je höher man steigt. Und das ist manchmal sehr anstrengend, kostet Kraft und Luft. Wenn ihr schreiben wollt, schreibt – aber rechnet mit nichts. Erträumen könnt ihr euch alles – und manchmal werden Träume auch wahr.

Teilen: