Best of 42er: Früher war mehr Zukunft

Christa Wolf Grabstein

Ich liebe Berlin, aber die Gegend um Friedrichstadtpalast, Tacheles und Oranienburger Straße meide ich so gut es geht. Ich glaube, ich bin schlicht zu alt für die hippen Mittzwanziger, die irgendwas mit Medien machen. Oder mit Internet. Kürzlich stellte ich mich dort bei einem Start-up-Unternehmen vor (weil ich gerade auf der Suche nach meinem nächsten Traumjob bin) und da wurde mir ganz begeistert davon erzählt, dass darin die Zukunft läge: benutzerspezifische Werbung für mobiles Internet. Ich beobachtete die Personalfrau, die sich Head of Human Resources nannte und dachte, dass ich definitiv zu alt für diese Art von Zukunft bin und außerdem schon zu viele Zukünfte habe kommen und gehen sehen. Unser Gespräch dauerte sehr viel kürzer als solche Gespräche normalerweise dauern und endete in mühsamer Höflichkeit. Während sie sich anschließend weiter um die Zukunft mit mobilem Internet kümmerte, stattete ich meiner Vergangenheit einen Besuch ab.

Denn ganz in der Nähe befindet sich der Dorotheenstädtische Friedhof und längst hatte ich mir vorgenommen, das Grab von Christa Wolf aufzusuchen. An diesem Tag also war es so weit. Ich verließ die lärmende Mitte Berlins und tauchte nach nur wenigen Schritten in die Stille vergangener Zeiten ein. Ich sah nicht auf den Plan am Eingang des Friedhofs, der den Weg zu den prominenten Gräbern erleichtert, sondern begann einen Spaziergang. Bereit, mich überraschen zu lassen, wem ich außerdem begegnen würde. Und sollte ich das Grab von Christa Wolf nicht finden, könnte ich später immer noch einen Blick auf den Plan werfen. Diese Überlegung war ganz überflüssig, denn tatsächlich fand ich das Grab von Christa Wolf bereits auf dem ersten Weg, in den ich intuitiv einbog. Hans Mayer, Thomas Brasch und nur wenige Schritte weiter: Christa Wolf.

Ihr Tod vor inzwischen drei Jahren war zwar keine Überraschung, schließlich war sie über 80 und hatte schon länger ein angegriffenes Herz, aber traurig hat er mich gemacht. Ich hatte ihr immer wieder mal einen Brief schreiben wollen. Um ihr für ihre Bücher zu danken. Und mit ihrem Tod war diese Möglichkeit endgültig dahin.

„Nachdenken über Christa T.“ habe ich zuerst von ihr gelesen, vor fast dreißig Jahren, in Mecklenburg, wo ich aufwuchs und wo sie lebte, wenn sie es in Berlin nicht aushielt. Das Buch machte mir Mut in einer Zeit, in der ich noch keine Ahnung hatte, was ich in Zukunft tun und wie ich leben wollte. Christa T. mochte ich, weil auch sie sich alle die Fragen stellte, mit denen ich mich herumschlug. Sie hatte keine einfachen Antworten und scheute die schwierigen nicht. Das machte mir Mut: Wenn andere die schwierigen Fragen des Lebens stellen konnten und sich nicht mit einfachen Antworten abspeisen ließen, konnte ich das auch.

Einige Jahre später las ich „Sommerstück“, das in Mecklenburg spielt, eine Gruppe von Menschen, die – in einer enttäuschenden Zeit in einem Land, von dem sie einmal gedacht hatten, es wäre die Zukunft – den größten Luxus genießen, nämlich den, miteinander zu sein. Und auch ich fand zu jener Zeit, dass Freundschaften das Wichtigste waren, was ich hatte. Sie pflegen zu dürfen, ist der Luxus des Lebens schlechthin und das gilt für mich bis heute.

Das letzte Buch von ihr „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ las ich in Nizza im November 2010. Ich saß am Meer in der Sonne, hatte im Ohr das Rauschen der Wellen, die in Nizza wegen des steinigen Strandes von einem Knistern begleitet werden und empfand auch das als Luxus: in der Sonne sitzen und lesen. Selbst in dem Moment noch, in dem mir – vollkommen ohne Vorwarnung – die Tränen in die Augen schossen, weil es Christa Wolf wieder einmal gelungen war, einen Satz zu formulieren, der mich im Innersten traf. Aber selbst da habe ich jenen Brief, an den ich schon so viele Jahre dachte, nicht geschrieben.

Ein Jahr später starb sie. Im Kreise ihrer Familie. Auf dem Grabstein ist eine Hälfte leer, dort wird eines Tages Gerhard liegen, mit dem sie sechzig Jahre verheiratet war. Und eben dieser freie Platz auf dem Grabstein machte mir bewusst, dass dies ein sehr privater Ort ist, ein Ort, an den ihr Mann, ihre Töchter, ihre Enkelkinder in jedem Moment kommen konnten, um ihrer zu gedenken. Auf einmal fühlte ich mich fehl am Platz und ging weiter.

In der Nähe fand ich die Gräber von Brecht und Helene Weigel, von Anna Seghers und László Radványi, von Heinrich Mann, an dessen Grab es auch eine Gedenktafel für seine Frau Nelly gibt, die in Los Angeles beerdigt wurde. Überhaupt geriet der Rest meines Spaziergangs zu einem einzigen: „Ach, der …“ und „Ach, die …“. Ich werde wohl wieder einmal dorthin gehen.

Auf dem Weg nach Hause kam ich noch einmal an jenem Haus vorbei, in dem meine Zukunft hätte stattfinden können und dachte, dass irgendwann früher trotz allem irgendwie mehr Zukunft war.

Nostalgische Grüße

Ihre Dorrit Bartel

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