Graves und die Tränen des Pharao (Kapitel 1)

1.

Mr. Graves ging mit schweren Schritten in seinem Büro auf und ab. Im Sitzen konnte er jetzt nicht nachdenken, nicht nur weil der dazu nötige Scotch fehlte, sondern auch, weil die zugehörige Scotchbeschafferin abhanden gekommen war. Genauer gesagt, Jo-Anna – die mit vollem Namen Johanna Anna Thelma Meridith Duncker hieß – hatte mal wieder gekündigt. Wie lange diesmal?, dachte Mr. Graves und zog die Stirn in Falten. Eine Kündigung war ja immer die Folge zu lang ausbleibender Gehaltszahlungen, was allerdings keine Seltenheit war. Trotzdem hielt sie es immer eine Weile mit ihm aus. Nur diesmal nicht. Graves verstand das nicht. Er war doch erst drei Gehälter im Rückstand. Plötzlich hatte er wieder Jo-Annas entschlossenen Blick vor seinem inneren Auge. Er schüttelte den Kopf. „Es ging ihr nicht ums Gehalt“, sagte er laut. „Da ist noch was. Aber was?“

Ehe er sich weiter Gedanken machen konnte klopfte es an der Tür. Ärgerlich sah er auf. Störung konnte er gerade nicht brauchen, deshalb sagte er nichts. Das Klopfen würde schon von alleine aufhören. Tat es auch. Nach dem dritten Mal wurde nicht mehr geklopft, sondern die Klinke heruntergedrückt und die Tür ein bisschen aufgeschoben. Ein Frauenkopf schob sich in den Spalt, den die geöffnete Tür ließ, der Rest der Frau kam Sekunden später hinterher. Augenblicklich hatte Graves Jo-Anna vergessen. Er war fasziniert von den himmelblauen Augen, den blonden Haaren, die sich eng an den kleinen Kopf schmiegten, den kleinen, schnuckeligen Ohren, in dessen halbrunden Läppchen Funkelndes steckte, den sinnlichen Lippen, den …

„Mr. Graves?“

… wundervoll runden Brüsten, die sich durch die Bluse abzeichneten, den schlanken Hüften, die …

„Mr. Graves?!“

… durch das dünne Jäckchen, das lose um ihre Schultern gelegt war eher betont, als versteckt wurden, dem gleichmäßig leicht gerundeten Beckenbereich, der in unglaublich lange Beine überging …

„Mr. Graves! Der sind sie doch – oder?“

Die junge Frau hatte die Tür ganz geöffnet und war selbstbewusst in den Raum getreten.

„Ja … äh … wie bitte?“

„Sie sind doch Mr. Graves? Nicht wahr?“

Ein bisschen Verärgerung war ihrer Stimme anzuhören.

„Nein … äh … doch, natürlich bin ich Mr. Graves.“ Er streckte sich, strafte seinen Rücken, hob sein Kinn ein wenig, um repräsentabler auszusehen.

„Mr. David Sinclair Graves, Privatdetektei und Inkasso. Womit kann ich dienen?“

Die junge Frau gab der Tür einen leichten Schubs, die sie zufallen und ins Schloss schnappen ließ, ohne allzu viel Lärm zu machen. Sie ging – nein, sie tänzelte – an Graves vorbei zu seinem Schreibtisch und setzte sich in den Stuhl. Graves stand noch immer da und starrte die zugeschlagene Bürotür an.

„Haben Sie etwas zu trinken da, Mr. Graves? Vielleicht einen Scotch?“

Das traf. Das traf tief unter der Gürtellinie.

„N… äh … also, meine Sekretärin ist unterwegs, neuen zu besorgen. Dauert aber noch eine Weile, bis sie zurück ist. Sie hat noch andere Besorgungen zu machen.“

Er drehte sich um und wollte zu seinem Schreibtisch gehen.

„Dann nehmen wir, bis sie kommt, meinen“, sagte die junge Frau und zog eine Flasche Macallan aus der Tasche. „Haben Sie Gläser?“

„Moment!“ sagte Graves und ging zu Jo-Annas Schreibtisch. Das kann auch nur mir passieren, stöhnte er innerlich. Nichts zu trinken im Haus, dann sagt sie ich hab was und zieht dieses Speyside-Zeug aus der Tasche. Der Tag wird noch böse enden.

Womit er Recht hatte, nur das wusste Graves zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

„Nun, Mrs. …“

„Lady Warrington.“

„Lady Warrington?“ Graves zog die Augenbrauen hoch. „Die Frau von dem Lord Warrington, der die außergewöhnlichste Diamantensammlung ganz Englands hat?“

Sie nickte.

„Dem Lord Warrington, der als der griesgrämigste alte Knaster ganz Londons bekannt ist und der quartalsweise seinen Sohn enterbt und vier Wochen später wieder in sein Testament aufnimmt. Dem Lord …“

„Jetzt ist gut mit der Aufzählerei“, sagte Lady Warrington. „Von diesem alten Sack bin ich die Frau.“

„Und womit kann ich Ihnen dienen? Soll ich ihren Gatten beschatten? Hat er eine jüngere … äh … Geliebte?“

„Das Beschatten würde langweilig werden mit der Zeit. Lord Warrington ist tot.“

„Das Herz?“ fragte Graves.

„Nein, die Stirn. Durchschuss. Sie müssen die Sauerei mal sehen. Die Putzfrau hat schon gesagt, das macht sie nicht sauber. Was denkt die sich, dass ich das mache? Sie klären bitte den Mord auf und wenn sie die Putzfrau auch noch zur Vernunft bringen, dann bekommen Sie eine Sonderprämie.“

„Haben Sie den Mord schon bei der Polizei gemeldet?“

Sie schüttelte den Kopf. „Inspektor Nelson ist gut befreundet mit Johnny – Lord Warringtons Sohn aus erster Ehe – das würde nichts bringen. Er ist der beste Freund von Johnny, die hängen in ihrer Freizeit zusammen ab und Koksen was die Nase hält. Nein, da käme nichts bei herum. Entlarven Sie Johnny als Täter und Sie sind ein gemachter Mann.“

Graves schwieg. Es sah so aus, als dachte er nach. Aber das tat er nicht. Genau genommen dachte er an nichts. Er sah da diese junge Frau vor sich sitzen – Lady Warrington – und am liebsten hätte er sich vorneübergebeugt, sie auf seinen Schreibtisch gezogen und es ihr gezeigt, so wie er immer mit Jo-Anna …

Plötzlich lag ein Scheck vor ihm auf den Schreibtisch. Fünfhundert Pfund war in zierlicher Schrift darauf geschrieben, verziert mit einer schon kaligraphisch wirkenden Unterschrift.

„Das ist die Anzahlung“, sagte Lady Warrington. „Wenn Sie den Täter überführt haben und er verhaftet ist, bekommen Sie den Rest von den 5000 Pfund, die ich für diesen Fall bezahlen werde.“

„Wie … viel?“ hauchte Graves mehr, als das er sprach.

„Das rechne ich jetzt nicht aus, das ist mir zu kompliziert. Aber seien Sie versichert, dass Sie den Rest dann von mir bekommen. Eine Lady hält ihr Wort. Und wenn Sie die Putzfrau auch noch rumkriegen, dann lege ich noch einmal Eintausendsechshundertundsechsundsechzig Pfund dazu.“

Graves hatte die Luft angehalten und lies sie jetzt ab, was sich wie ein leises Pfeifen anhörte.

„Und Sie sind sicher, dass dieser Johnny …“

„Wer sonst? Etwa Iwan Iwanowitsch, Diamantensammler wie mein verstorbener Mann und Mitglied im gleichen Club? Er dürfte derjenige sein, der ihn als Letzter lebend gesehen hat, aber ich glaube nicht, dass er zu solch einer Tat fähig wäre. Oder etwa Inspektor Nelson?“ Sie gickerte ein helles Lachen in den Raum. „Das glauben Sie doch selbst nicht? Dann schon eher die Tränen des Pharaos.“

„Wessen Tränen?“

„Ein ägyptischer Grabschmuck, der zuletzt in die Hände meines Mannes geraten ist. Vielleicht ist ja ein alter Fluch des Pharaos mit diesem Schmuck verbunden. Dann zahle ich noch einmal tausend Pfund, wenn Sie den Fluch beseitigen.“

Ehe Graves nachfragen konnte, ging die Bürotür auf und ein junger Stutzer trat in die Detektei, Nelke im Knopfloch, von Brillantine glänzendes, blauschwarz schimmerndes Haar.

„Bist du fertig, Cherie? Wir müssen los, die Rennen beginnen gleich. Ich habe extra den Wagen laufen lassen. Komm schon, wir können doch später noch mal wiederkommen und den Rest erzählen.“

„Wer ist das?“ fragte Graves.

„Das ist Jacob, er nimmt mich neuerdings mit zur Rennbahn.“

Graves dachte sich seinen Teil.

„Nun, Mr. Graves. Sie wissen jetzt alles. Der Butler ist informiert und wird Sie hereinlassen. Es ist noch alles so, wie ich es vorgefunden habe vor etwa einer Stunde. Wann Sie die Polizei informieren, überlasse ich Ihnen.“

Sie stand auf, nahm die Flasche Macallan, verstaute sie wieder in ihrer Handtasche, nickte ihm einmal zu und stolzierte … nein schwebte … an Jacob vorbei, der sich leicht in Richtung Mr. Graves verneigte dann ebenfalls ging und leise die Tür hinter sich schloss.

„So was“, sagte Mr. Graves und kippte dann den Rest dieses süßen, torfigen Scotch in sich hinein …

(Fortsetzung folgt)

 

Das 1. Kapitel wurde geschrieben von Horst-Dieter Radke

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