Heilands heiligs Milchvieh

von Claudia Kociucki

Seit mehr als einer Stunde schon saß Alt-Bäuerin Luise Huber in dem winzigen Bad Reichenhaller Reisebüro und fragte sich, ob der „Buab“ dort hinter der Theke überhaupt eine Ahnung von dem hatte, was er da tat. Wie konnte er auch? Der Eder-Flori musste doch höchstens … War der Dreikäsehoch nicht gerade erst mit der Mittelschule fertig geworden? Hach, wie die Zeit verging.

Vor zehn Jahren war sie das letzte Mal hier im Geschäft gewesen und hatte – noch beim alten Joseph Eder – eine Busreise für sich und ihren Alfred gebucht. Gott hab ihn selig! (Also ihren Alfred, nicht den Eder-Joseph, der lebte ja noch!) Ihre Kinder, Enkelkinder und Geschwister hatten ihnen die Fahrt nach Rom zur Goldenen Hochzeit geschenkt. Gottes Segen wollten sie sich im Vatikan abholen. Und nun war es vorbei mit ihm. (Also nicht mit dem Vatikan, Grundgütiger, nein, mit dem Alfred!)

Oma Luise wischte sich eine Träne aus dem Auge, strich ihre Dirndlschürze glatt und richtete eine Haarnadel in ihrem sorgsam geflochtenen silbergrauen Haarkranz. Das Leben ging weiter, und sie wollte nicht mit Gott und ihrem Schicksal hadern. Womit die rüstige Rentnerin aus der lokalen Agrar-Branche allerdings haderte, war der junge Mann, der ihr gegenübersaß und ständig auf diese – diese Computer-Maschine starrte. Neumodischer Kram, der!

Früher, ja früher, da hatte es noch stapelweise bunte Prospekte gegeben! Die nahm man in Ruhe mit nach Hause auf den Hof, blätterte sie vor und zurück und kreuzte nach reiflicher Überlegung und hitzigen Diskussionen am Kaffeetisch das Gewünschte an. Die betreffenden Seiten riss man aus dem Katalog heraus, brachte sie zurück ins Reisebüro, der alte Ederer telefonierte dann stundenlang mit irgendwem in irgendwo und am Ende trug man feierlich die hochheiligen Fahrscheine und Hotelreservierungen nach Hause. So lief das in der guten alten Zeit! Doch seit der Alte schweren Herzens das Reisebüro an seinen Enkel Florian übergeben hatte, schien alles anders zu sein.

Die Huberin wartete geduldig. Irgendwann lugte das Gesicht des jungen Reisebüro-Inhabers wieder hinter dem Bildschirm hervor, und er schob ihr eine Mappe mit allerlei Kleingedrucktem hin. Aus ihrem neuen braunen Lederbeutel kramte die alte Dame einen großen Umschlag hervor. Die versammelten Hubers hatten zu Luises 80. Geburtstag wieder einmal Geld für eine Reise gesammelt. Florian Eder hatte noch nie so viele zu Schmetterlingen gefaltete Banknoten und glänzende Eurostücke auf einen Haufen gesehen, geschweige denn so viel Bargeld in seiner Kasse gestapelt. Die Zeiten waren vorbei!

Als der fällige Gesamtbetrag schließlich beglichen war, nahm die Seniorin ihre Reiseunterlagen an sich und bedankte sich pflichtschuldig. Dieser junge Mann war zwar sehr bemüht gewesen, das musste sie zugeben, aber er hatte dermaßen leise gesprochen … Dem Herrn sei Dank hatte sie diese Tortur nun hinter sich! So Gott wollte, würde sie am kommenden Freitag früh morgens in den Zug steigen und am Sonntag mit anderen wanderfreudigen Katholiken an der Wallfahrt zu den weltberühmten Bamberger Krippenfiguren teilnehmen. Das Besondere an dieser sakralen Holzschnitzgruppe war, dass es neben Ochs und Esel eine Handvoll bayerischer Milchkühe in den hochheiligen Stall geschafft hatte, um dem neugeborenen Heiland zu huldigen. Die Huberin freute sich darauf, Berta, Elsa und Vroni, die Schutzpatroninnen-Dreifaltigkeit der bajuwarischen Milchbauern, endlich in Natura zu sehen. Eine wahre Traumreise!

Ihrer traumhaften Reise ein gutes Stück nähergekommen, erhob sich die Jubilarin, rückte die Schürze über ihrem Dirndlrock zurecht und verließ mit einem resoluten Gottesgruß das Reisebüro. Sie trat hinaus auf die von betagten Touristen bevölkerte Einkaufsstraße und holte tief Luft. Schnell setzte sie ihr Kopftuch auf, verknotete es unter dem Kinn und drückte ihre Ledertasche fest an sich. Man hörte und las jeden Tag von diesen Ganoven, die … die, jawohl! … auf Motorrädern daherkamen und wehrlosen alten Damen die Handtasche von der Schulter rissen. Luise Huber schimpfte sinngemäß irgendetwas von „gottesfernem Gesindel“ (wie immer, wenn sie an den weltumspannenden Sittenverfall dachte). Sie dachte an die Worte ihres Enkels Kevin – dem Herrn Pfarrer war sie bis heute gram, dass er sich gegen eine stattliche Spende in der sonntäglichen Kollekte bereit erklärt hatte, den Buben auf diesen unchristlichen Namen zu taufen. Wie versuchte er sie noch allwöchentlich zu beschwichtigen?

„Ah geh, Oma, jetzt hörst aber auf! Des hat’s hier noch nie ge‘m …“ Außerdem gebe es hier in der Fußgängerzone gar keine Motorräder.

„Man weiß ja nie!“, dachte die alte Dame. Die Wege des Herrn (und möglicher Fluchtfahrzeuge) waren schließlich unergründlich.

Zur Sicherheit beschwichtigte die Alt-Bäuerin den Herrgott mit einem verstohlenen Kreuzzeichen, sog die saubere oberbayerische Landluft ein und ging los. Sie freute sich auf die Städtereise, die sie soeben gebucht hatte. Zwar hatte der freundliche Mann im Reisebüro mehrfach angemerkt, dass es ein beschwerliches Unterfangen und eine lange Fahrt werden würde. Aber sie hatte, ehrlich gesagt, nicht alles verstanden.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle dachte Luise Huber über einen der vielen ungebetenen Ratschläge ihres ältesten Sohnes nach. Sollte sie wirklich nachgeben und sich eines dieser modernen, winzigkleinen Hörgeräte-Modelle zulegen? Wie sollte sie das bloß mit ihren arthritischen Fingern bedienen? Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie den Gedanken und die Empfehlung loswerden. Nun hieß es strammen Schrittes weiter, denn in drei Minuten würde der Bus am Kurgarten abfahren.

Drei Monate später flog die Tür des kleinen Reisebüros Eder auf und knallte gegen die große Milchkanne, die als Schirmständer direkt dahinterstand. Derart ging es hier sonst nie zu, und der Eder Florian ließ vor Schreck die Regalklappe herunterkrachen, hinter der er einen Stapel Fernreisen-Prospekte verstauen wollte. Er drehte sich um und blieb mit offenem Mund an der Regalwand stehen. Ein vertrauter Geruch – eine Mischung aus Kuhmist und Traktordiesel – erreichte seine Nase. Er traute seinen Augen nicht: War das etwa …?

Im Türrahmen stand eine ältere Dame in einem exotischen seidenen Trachtenkleid mit kurzen enganliegenden Ärmeln. Mit der linken Hand drückte sie einen abgewetzten Lederbeutel an ihren Körper, mit der rechten strich sie ihre zerzausten – teilweise verfilzten – silbergrauen Haare zurück. Der Eder-Flori fragte sich, was dieser auffällige rote Fleck in ihrem ungewaschenen Gesicht zu bedeuten hatte.

„Frau Huaber?“

„Duuuuuuuuuuuuu!“, presste die alte Dame hervor.

„Ja, was hom‘s denn, Huaberin? Hocken’s Iana doch erst amol hi! Mengs a Glaserl Wasser?“

Der junge Reiseverkehrskaufmann versuchte sämtliche Deeskalations-Strategien aus seinen Gehirnwindungen zu schälen, die er auf dem Kommunikationsseminar ‚Der Kunde als Chance zur Umsatzsteigerung‘ verschlafen hatte. Um von besagter Kundin nicht als bewaffnet und gewaltbereit eingestuft zu werden, legte er zunächst im Zeitlupentempo den Katalogstapel auf seinem Schreibtisch ab. Hierbei ließ er die von ihm gefühlte Bedrohung keine Sekunde aus den Augen. (Die vielen Folgen „CSI Bad Tölz“ hatten sich letzten Endes gelohnt.) Mit einer rasenden Bauersfrau war nicht zu spaßen, das wusste er aus Erfahrung.

Oma Huber stakste mit erhobenem Zeigefinger auf ihn zu:

„Duuuuuu!“

Der Eder-Flori konnte sich keinen Reim auf das Ganze machen: Vielleicht hatte die lange Zugfahrt die alte Dame überfordert. Dafür war der Ticketpreis aber aufgrund der wenig attraktiven Strecke ersatzlos günstig gewesen. Daran gab es nichts zu meckern, fand er.

Die reiselustige Gläubige fuchtelte weiter mit dem Zeigefinger herum und kam noch näher auf ihn zu – dabei hinterließen ihre offenen Sandalen rotbraune Lehmklümpchen auf dem Fußboden. Florian Eder schaute stumm und hilflos an Frau Huber hinab, die nun direkt vor seinem Schreibtisch stand. Der Geruch einer fremdländischen Gewürzmischung kitzelte ihn in der Nase; das Kleid erinnerte ihn an eine farbenfrohe Tracht aus diesen mehrstündigen Bollywood-Filmen, die seine Verlobte so gerne sah, und auch der rote Punkt auf der Stirn kam ihm bekannt vor …

Luise Huber stützte sich auf dem Schreibtisch ab, und ihr staubiges Gesicht kam seinem gefährlich nahe.

„Duuuu!“, donnerte sie weiter. „Ja, wos glaaabst denn du, wo du mi hi‘g’schickt host? I wuilt zu die katholisch‘n Kia nach Bamberch – ned zu die heilig’n Kia nach Bombay!“

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