Wenn über Hermann Hesse gesprochen wird – ob positiv oder negativ – dann wird meist Bezug genommen auf die großen Erzählungen, die Hesse selbst sich weigerte Romane zu nennen: Peter Camenzind, Unterm Rad, Roßhalde, Demian, Siddharta, Der Steppenwolf, Narziß und Goldmund, Die Morgenlandfahrt, Das Glasperlenspiel. Gerne schimpft man auch über seine Gedichte, seine kürzeren Erzählungen werden aber meist verschwiegen. Dabei zeigt sich gerade in ihnen, wie vielseitig Hesse ist. Während ich durch die vielen Erzählungen blättere, fallen mir immer wieder alte Schätze auf. Manche davon habe ich lange nicht mehr gelesen, bin aber sofort motiviert, sie mir gleich vorzunehmen. Wenn es nur nicht so viele wären.
Die frühen Erzählungen atmen noch ein bisschen das 19. Jahrhundert und die Romantik, aus der Hesse deutlich schöpfte. Sein zweites Prosawerk, »Hinterlassene Schriften und Gedichte von Hermann Lauscher« (1900), zeigt dies überdeutlich in der Erzählung »Ein Kranz für die schöne Lulu«. Durch dieses Buch, erschienen in der Basler Buchhandlung Reich, wurde der Verleger Fischer auf Hesse aufmerksam. In seinem Verlag erschien 1904 Hesses erste große Erzählung »Peter Camenzind« und machte ihn mit einem Schlag bekannt. Zwei Jahre später erschien die zweite große Erzählung, »Unterm Rad«. Bevor Hesse jedoch eine weitere nachlegte, kamen zwei Bände mit kleineren Erzählungen heraus: »Diesseits« (1907) und »Nachbarn« (1908). So blieb es auch weiterhin: Erzählbände veröffentlichte er zwischen den Einzelwerken immer wieder und sie waren meist ebenso erfolgreich.
Neben der Verarbeitung von Kindheits- und Jugenderinnerungen – etwa »Aus Kinderzeiten« (1903) und »Das Nachtpfauenauge« (1911), setzte sich Hesse auch immer mit aktuellen Themen auseinander. In der Zeit von 1906 bis 1915 war er oft auf dem Monte Verità in der Nähe von Ascona zu finden. Dort hatte sich eine Gruppe von Lebensreformern, Künstlern und Revolutionären angesiedelt. Hesse versuchte sich zu integrieren, um so eine Lösung seiner Probleme zu erreichen, durchschaute aber schnell, dass er zwar hinsichtlich des Widerstands gegen die Kultur und Gesellschaft seiner Zeit mit vielem übereinstimmte, keineswegs aber mit den Verhaltensweisen der Asketen, Theosophen, Lebensreformer. Mit manchen blieb er weiterhin freundschaftlich verbunden, brachte aber trotzdem scharfe und satirische Kritik in seinen Erzählungen zum Ausdruck. Lesenswerte Beispiele dafür sind »Der Weltverbesserer« (1910) oder »Doktor Knölges Ende« (1910). Satirisch ist auch der 1912 geschriebene »Autorenabend«, in dem der eingeladene Dichter mit ganz besonderen Erwartungen konfrontiert wird.
Das Phantastische trägt bei Hesse manchmal sogar Züge der Science Fiction: »Wenn der Krieg noch zwei Jahre dauert« (1907) und »Wenn der Krieg noch fünf Jahre dauert« (1908). In der Erzählung »Die Fremdenstadt im Süden« (1925) sieht er die Problematik der Touristikindustrie voraus, wie sie fünfundzwanzig Jahre später begann, Realität zu werden.
Spannend sind auch Hesses Stilübungen, oder besser gesagt: Experimente. Ein frühes Beispiel dafür ist seine Geschichte »Der Wolf« (1903). Darin erzählt er, wie ein hungriger Wolf sich zu nahe an die Menschensiedlung heranwagt und letztendlich gejagt und erschossen wird. In »Der Waldmensch« (1914) lässt Hesse einen Ur-Menschen, der mit seinem Volk im dunklen Wald lebt, aus einem Konflikt heraus aus dem Wald ausbrechen, obwohl die Tradition seines Volkes und vor allem der Schamane behauptet, dass dort nur der Tod lauere. Er erkennt jedoch, das dies nicht der Fall ist und so kehrt er noch einmal zurück, um für diese Lüge Rache zu nehmen und eine Botschaft über seine Erkenntnis zu hinterlassen.
Auch historisches hat Hesse zu bieten, etwa die vor Jahren als Reclam-Heftchen verbreitete Erzählung »Im Presselschen Gartenhaus« (1913), eine kleine Novelle um den bereits verwirrten Hölderlin, Eduard Mörike und Wilhelm Waiblinger. Oder »Casanovas Bekehrung« (1906), eine Novelle um den bereits alt gewordenen Abenteurer.
Ruhe und Abgeklärtheit zeichnen die Erzählungen der späten Jahre aus, selbst wenn er wieder zur Satire greift, wie etwa in »Bericht aus Normalien« (1948). Ganz besonders berührend sind die späten Rückblicke, wie die »Unterbrochene Schulstunde« (1948) oder die Beobachtungen eines alten Mannes: »Kaminfegerchen« (1953).
Wer sich nicht durch Hesses sämtliche Erzählungen durchlesen möchte, findet in einer Taschenbuchausgabe eine gute Sammlung ausgesuchter Erzählungen aus seiner ganzen Schaffenszeit:
Die schönsten Erzählungen
Suhrkamp TB, 12 Euro
ISBN 978-3518456385
Für Interessenten an seinem gesamten erzählerischen Schaffen bieten sich mehrere Varianten an:
Das erzählerische Werk: Sämtliche Jugendschriften, Romane, Erzählungen, Märchen und Gedichte
10 Bände in Kassette – TB, 128 Euro
ISBN 978-3518062128
Sämtliche Werke in 20 Bänden und einem Registerband
Band 6: Die Erzählungen 1. 1900-1906
Suhrkamp, gebunden, 49,90 Euro
ISBN 978-3518411063
Band 7: Die Erzählungen 2. 1907-1910
Suhrkamp, gebunden, 44,90 Euro
ISBN 978-3518411070
Band 8: Die Erzählungen 3. 1911-1954
Suhrkamp, gebunden, 44,90 Euro
ISBN-13: 978-3518411087
Erlebnis in der Knabenzeit
Sämtliche Erzählungen 1899-1902
Suhrkamp TB, 7 Euro
ISBN 978-3518458013
Heumond
Sämtliche Erzählungen 1903-1905
Suhrkamp TB, 7 Euro
ISBN 978-3518458020
Das erste Abenteuer
Sämtliche Erzählungen 1905-1907
Suhrkamp TB, 7 Euro
ISBN 978-3518458037
Die Heimkehr
Sämtliche Erzählungen 1908-1910
Suhrkamp TB, 7 Euro
ISBN 978-3518458044
Der Weltverbesserer
Sämtliche Erzählungen 1910-1918
Suhrkamp TB, 7 Euro
ISBN 978-3518458051
Traumfährte
Sämtliche Erzählungen 1919-1955
Suhrkamp TB, 7 Euro
ISBN 978-3518458068