Historische Romane – gibt’s die?

3. Das 21. Jahrhundert

Im neuen Jahrtausend, zumindest in den ersten zwanzig Jahren, die wir überblicken können, trieb der historische Roman neue Blüten in alle Richtungen. Vielleicht war er noch nie so beliebt, obwohl das objektiv derzeit gar nicht beurteilt werden kann, weil wir viel zu dicht dran sind. Noch viel weniger als in den beiden zurückliegenden Artikeln vermag ich einen Überblick über die Vielzahl der veröffentlichten Romane dieses Genres geben und begnüge mich deshalb mit ein paar Hinweisen auf besondere Autoren.

Galsan Tschinag (*1943) wurde in der Mongolei geboren. Bei seiner Tante wurde er schon früh als Schamane ausgebildet. 1962 kam er nach Leipzig, nur des Mongolischen und des Russischen mächtig. Hier lernte er deutsch und studierte an der Karl-Marx-Universität Germanistik. Sein Studium schloss er 1968 ab und arbeitete anschließend in seiner Heimat als Deutschlehrer. Man entzog ihm aber die Lehrerlaubnis Mitte der 1970er Jahre wegen politischer Unzuverlässigkeit. Seither lebt er abwechselnd in Deutschland und der Mongolei. Er veröffentlicht seit 1981 und schreibt überwiegend auf deutsch, weswegen er als deutscher Autor gilt. In seinem umfangreichen Oeuvre findet sich neben Gedichten und Erzählungen unter seinen Romanen auch ein historischer: »Die neun Träume des Dschingis Khan« (2007). Der mongolische Herrscher blickt sterbend in neun Träumen auf sein Leben zurück, auf seine Erfolge und seine Niederlagen. Allein diese Form hebt ihn schon von der Vielzahl traditionell erzählter Romane ab. Tschinags Erzählkunst setzt den Roman noch weiter von jeder Trivialität ab. Ein beeindruckendes Werk, das für den Autor einnimmt und neugierig auf seine anderen Bücher macht.

Ein vielseitiger Autor ist auch Helmut Krausser (*1964). Unter seinen Romanen und Erzählungen, in denen er unterschiedliche Genres streift, befindet sich mit »Melodien oder Nachträge zum quecksilbernen Zeitalter« ein Roman, in dem er Gegenwart mit Vergangenheit vermischt. Die Zeitebenen wechseln von 1988 ständig ins ausgehende 15. und beginnende 16. Jahrhundert, ins Zeitalter der Hochrenaissance. Es geht um die Wirkung von Musik, damals wie heute. Velvet Underground und der berüchtigte Komponist Gesualdo, der seine Frau und deren Liebhaber ermordete, kommen in diesem Roman vor, sowie der Alchemist Castiglio und der Kastrat Pasqualini. Ein Anhang von zwanzig Seiten gibt zu einzelnen Stellen Erläuterungen, die den Lesern und Leserinnen zeigen, dass Fiktion und historische Fakten kunstvoll vermischt werden. Der Roman erschien bereits gegen Ende des 20. Jahrhunderts, gehört also genau genommen in die vorangegangene Periode, erscheint mir aber so neu und vorausdeutend für die Entwicklung des Genres, das ich ihn herüber genommen habe in das neue Jahrhundert. Wer mir das nicht durchgehen lassen will, kann ihn ja wieder zurücktragen.

Ein pfiffiger und für das Genre sehr innovativer Autor ist Robert Löhr (*1973). Er greift gerne auf historisches Personal zurück und bringt dieses in phantastische Situationen, etwa Goethe, Schiller, Kleist u.a. in »Das Erlkönig-Manöver« (2007) oder Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach und andere Minnesänger in »Krieg der Sänger« (2012). Bereits mit seinem ersten Roman »Der Schachautomat« (2005) griff er ein skurriles Thema auf, das des »Schachtürken« von Wolfgang von Kempelen.

Im ersten Artikel versprach ich, einen Roman zu erwähnen, der meiner Meinung nach an die Seite von Stifters »Witiko« gestellt werden kann. Diesem Versprechen komme ich nun nach. Es handelt sich um Karen Duves (*1961) Roman »Fräulein Nettes kurzer Sommer« (2018). Erzählt wird, wie der jungen Annette von Droste Hülshoff ein böser Streich gespielt wird, um sie von einer Liebschaft abzubringen. Das Personal, dass die Autorin auffährt, ist beachtlich: die Brüder Grimm, Brentano, den Erfinder Karl Drais, den Mathematiker Carl Friedrich Gauß und andere. Der Roman ist gut recherchiert, Details werden nie aufdringlich präsentiert. Es entsteht ein Bild der Zeit, die handelnden Personen sind vorstellbar, die Entwicklungen nachvollziehbar. Für mich war es der beste Roman (nicht nur unter den historischen), den ich im Jahr 2019 gelesen habe.

Ein Autor, der es ganz besonders mit der Musik hat, ist Klaus Funke (1947). Er schrieb Romane über Rachmaninow (»Zeit für Unsterblichkeit« ), Clara Schumann (»Am Ende war alles Musik«), Paganini (»Der Teufel in Dresden«), aber auch über andere historische Persönlichkeiten. In »Die Geistesbrüder« geht es um die Künstlerfreundschaft zwischen Karl May und Sascha Schneider. Funkes Stil ist jenseits aller Anbiederung. Er schreibt dem Thema und der Zeit angemessen, verzichtet auf eine einfache Sprache, bleibt aber trotzdem gut lesbar. Für mein Dafürhalten wird er viel zu wenig beachtet.

Was in den kommenden 80 Jahren dieses Jahrhunderts noch an historischen Romanen veröffentlicht – und ab wann unsere Zeit Thema historischer Romane wird – kann ich nicht vorausahnen. Das macht aber nichts, es gibt ja Romane und Erzählungen, die in vergangenen Zeiten spielen und von uns noch gelesen werden wollen. Viel Spaß mit der künftigen Lektüre zur Vergangenheit wünscht Ihnen

Ihr
Horst-Dieter Radke

Nachsatz: Die obige Zusammenstellung ist nicht repräsentativ. Ich habe aber die meisten der erwähnten Romane gelesen. Wo nicht, sind es Hinzufügungen, um das Werk des jeweiligen Autors etwas breiter zu zeigen. Es stellt keine Wertung dar, wenn ich Autorinnen und Autoren nicht erwähnt habe.

Literaturtipps:

Galsan Tschinag: Die neun Träume des Dschingis Khan

Helmut Krausser: Melodien

Robert Löhr: Krieg der Sänger

Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer

Klaus Funke: Am Ende war alles Musik

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