Als wir das erste Mal ins Tessin fuhren, 1981, hatte ich es dabei, das Buch »Geliebtes Tessin« von Emmy Ball-Hennings. Seither ist dieses inzwischen vergriffene und nur noch antiquarisch erhältliche schmale Bändchen mit den kargen, aber treffenden Federzeichnungen von Lis Boehner ein Anwärter für das berühmte Buch, das ich mit auf die Insel nehmen würde. Allerdings heimlich, denn zum schmökern ist es viel zu dünn. Da müsste es schon versteckt mitkommen auf die Insel und den offiziellen Titel einem dicken Wälzer überlassen, an dem ich lange etwas habe – wenn ich denn auf der Insel überhaupt zum lesen käme. Ins Tessin fuhren wir damals nicht der Emmy wegen, sondern auf den Spuren Hermann Hesses, denen wir schon über Maulbronn, Calw, Tübingen und Gaienhofen gefolgt waren. Wir zelteten im Valle Maggia, nicht weit weg von Ascona, besichtigten den Monte Veritá, wo nach 1900 ein Zentrum für Aussteiger (andere, wie zum Beispiel Emil Szittya sagten: Verrückte, Landstreicher, Verbrecher, Wahnsinnige, Sozialdemokraten, Anarchisten, Künstler und andere Spinner) entstand, fuhren von dort nach Lugano und stiegen zu Fuß nach Montangnola hinauf. Ich erinnere mich noch deutlich an diesen Tag. Wir kletterten an Ziegen vorbei und sahen schon von weit unten die Casa Camuzzi, Hesses erstes Domizil im Tessin, herunter leuchten. Anders kann man es nicht bezeichnen, denn die weiße Fassade des verwinkelten Gebäudes schien das Sonnenlicht ungemindert weitergeben zu wollen. Der Maler Gunter Böhmer, Freund Hesses und Illustrator einiger seiner Bücher, wohnte damals noch darin. Es war immer noch ein stiller Ort, wo vor dem Haus die Katzen lagen oder herumstrichen und es, anders als unten im lauten und hektischen Lugano, auch ein wenig verwunschen schien.
Als wir im letzten Jahr in Graubünden unseren Urlaub verbrachten, machten wir einen zweitägigen Abstecher ins Tessin. Wir wollten unseren Hochzeitstag in Ascona verbringen, wollten morgens aufwachen und aus dem Hotelfenster über den See schauen. Da überkam es uns und wir suchten Montagnola noch einmal auf. Wie anders war dort inzwischen alles. Die Stadt und das Bergdorf waren zusammen gewachsen. Man musste nicht mehr suchen, denn überall zeigten Schilder, wo ein Hesse-Ort im Ort war. Im Haus neben der Casa Camuzzi gab es ein Museum und Knulp schlief hinter dem Haus. Reinkarniert als Schildkröte. Damals hatten wir es nicht zu Hesses Grab geschafft. Das zumindest wollten wir diesmal nachholen und so fuhren wir zwar von Montagnola Richtung Lugano zurück, hielten aber in Gentilino, um dem Friedhof von Sant’Abbondio einen Besuch abzustatten.
Obwohl die Straße Kirche und Friedhof trennt, ist es doch verhältnismäßig ruhig dort. Ruhiger wenigstens als in Montangnola. Hesse wird das zu schätzen wissen, dachte ich und hatte zunächst Mühe, trotz Übersichtskarte am Eingang sein Grab zu finden. Es liegt noch nicht einmal versteckt, allein die unscheinbare Schrift auf dem weit zurückliegenden Grabstein ließ mich zweimal dran vorbei gehen. Ninon Hesses Grabstein ist kaum auszumachen. Er steht nicht aufrecht sondern ist in den Boden gelegt. Eidechsen huschen darüber und so mancher wird vielleicht drauf getreten sein, ohne es zu bemerken.
Nun hätte der Besuch dieser letzten Ruhestätte zu Ende sein können, doch mir lag noch daran, das Grab von Hugo und Emmy Ball aufzusuchen. Insbesondere letzterer wollte ich einen Dankesbesuch abstatten. Es ist ja nicht nur dieses kleine Buch über das Tessin, es sind vor allem ihre Gedichte, die mich über die Jahre begleitet haben. Man muss sie suchen, einsammeln, denn Veröffentlichungen gibt es kaum. Man findet im Internet mehr als in gedruckten Werken. Zumindest derzeit. Ein kleines Heftchen mit einer guten Auswahl ist im Hochroth Verlag Leipzig zu bekommen – und zwar nur dort. Da stand ich dann also vor dem Grab, das sie mit Hugo Ball und Annemarie Schütt Hennings, ihrer Tochter aus erster Ehe, teilt. Auf der Übersichtstafel am Eingang des Friedhofs ist nur Hugo Ball erwähnt, der Asket, mit dem sie zusammen in Zürich den Dadaismus miterfunden hat. Kein Wort von Emmy. Ein wenig erbost versuchte ich, nur an sie zu denken, um dieses Unrecht ein wenig auszugleichen.
Jetzt geh ich viele Gassen auf und ab.
Türmen sich Tage, türmt sich mein Grab.
Mein Grab wird groß und es wird weit,
Umfängt mich Todeshügel der Vergänglichkeit.
…
So beginnt ihr Gedicht von der müden Tänzerin. Weitere Verse gehen mir durch den Kopf, ein ganzes Gedicht bekomme ich nicht zusammen.
Vielleicht geht ein Gedicht in ferne Weiten.
Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten,
Ein einsam flatternd, blasses Fahnentuch.
…
endet das Gedicht »Ich bin so vielfach« und macht mich ein wenig traurig. Immerhin liegen sie nicht weit auseinander. Die Balls und Hesse haben eine tiefe Freundschaft gepflegt, nicht ganz konfliktfrei insbesondere mit Emmy, aber der Tod beider Freunde hatte Hesse tief getroffen. Hugo Ball konnte gerade noch die Biografie über den Freund fertig stellen. Sie erschien im Juni 1927. Am 14. September starb Ball an einem Magenkarzinom. Seine Frau überlebte ihn um zwei Jahrzehnte.
Für einen Augenblick stelle ich mir vor, wie Mitternachts die drei aus dem Grab kommen, Hugo und Annemarie am Ort bleiben, Emmy aber hinübergeht zum Grab der Hesses. Sie klopft dort an den Grabstein und ein mürrischer Hermann kommt hervor. Er lächelt jedoch, sobald er Emmy erkennt und folgt der Einladung hinüber zu den anderen beiden. Ein Blick Emmys zu Ninons Grab, doch Hermann schüttelt den Kopf. So gehen sie allein, stehen eine Weile zu viert zusammen, schwätzend, rauchend – wo haben sie die Zigaretten her? – bis Hermann sich abwendet und zu seinem Grab zurück geht. Auch die drei verschwinden nach und nach wieder unter ihrem Grabstein. Dann ist es ruhig auf dem Friedhof.
Von Emmy Ball-Hennings war lange Zeit ein Band »Briefe an Hermann Hesse« zu bekommen. Der ist inzwischen auch vergriffen, allerdings gibt es den »Briefwechsel 1921 bis 1927 mit Hugo Ball und Emmy Ball-Hennings« inzwischen und einen Roman, der die Freundschaft der drei nachzuzeichnen versucht: »Eveline Hasler: Und werde immer Ihr Freund sein«.
Oft vergess ich deinen Namen,
Und ich weiß nicht, wer du bist.
Alle Namen, die mir kamen,
Sind mir Fallen, Überlist.
Namen wollen mich umstricken,
Namen wollen Eisenketten,
Namen wollen stets verrücken.
Namenloser! Mich erretten.
…
Emmys Name steht auf dem Grabstein, zwischen Hugo und Annemarie. Das wird ihr recht sein und so machte ich mich auf, den Friedhof zu verlassen. Bruno Walter nickte ich einmal kurz zu als ich an seinem Grab vorbei kam, zu mehr reichte es an diesem Tag nicht mehr.
Horst-Dieter Radke