Horst-Dieter entwickelt Figuren: Schicken Sie sie doch mal zur Therapie!

Romanpersonal soll lebensecht sein, keine zweidimensionalen Schablonen, wird oft gefordert. Aber was heißt das denn? „Na, die Bösen sind nicht nur böse und die Guten nicht nur gut“, sagt Amos, nachdem er die Kaffeetasse abgesetzt hat. Der Kollege aus den Reihen der 42erAutoren kommt dienstagvormittags gerne auf einen Kaffee zu mir in die Küche und diskutiert mit mir über dies und jenes und das Schreiben ganz besonders.

Aber ist es so einfach? Lasse ich den Protagonisten einfach mal seiner Verlobten eine scheuern und der Antagonist hilft einer alten Oma über die Straße – und dann hat der Roman lebensechtes Personal?

„Der Anta… – wie heißt der noch mal? – könnte ja einfach heimlich verliebt sein, ohne sich zu trauen, etwas zu sagen“, versucht Amos es noch einmal. „Das wäre doch ein schöner Zug an ihm, den vor allem die Mädels lieben werden.“

Nun ja, ich bin da nicht so zuversichtlich wie Amos. Deshalb setze ich mehr auf qualifizierte Hilfe. Unsere Psychologie hat uns doch viele schöne Entwicklungsmodelle präsentiert, seit sie sich von Freuds Kindheitsfixierung gelöst hat. Charlotte Bühler, Erik H. Erikson, Robert Havighurst, Norma Haan beispielsweise sind da zu nennen. Nichts einfacher, als sich so ein Entwicklungsmodell zu nehmen und das Personal des Romans damit zu durchleuchten. Haben wir gemacht, meine Sparringspartnerin Schreibpartnerin Monika D. aus B. und ich, für unseren Roman Hiddenseeblues, den der Verlag umgetitelt hat in Eine Insel für immer.

Die Handlung ist schnell erzählt: Krischan will sich zur Ruhe setzen, doch da ist plötzlich wegen der Finanzkrise sein gespartes und falsch angelegtes „Geld für den Ruhestand“ weg. Er muss noch mal ran. Dabei trifft er auf zwei Frauen – eine ältere (Nora) und eine jüngere (Sonja), und – das wird sich jetzt keiner vorstellen können – es ist für ihn nicht so leicht, sich zu entscheiden. Außerdem ist da auch noch Onno, der verschwundene Freund, der sich trotz seiner Abwesenheit immer zu Wort meldet, meist unpassend. Und dann kulminiert das alles. Und als ob es damit nicht genug wäre, taucht bei Krischan plötzlich jemand aus der Vergangenheit auf. Eine, die er total verdrängt hatte, über die Jahre.

Dieses ganze Personal musste jetzt fein ausdifferenziert werden und jede/r seine eigene Geschichte bekommen. Ja klar, Interviews haben wir mit den Protags auch gemacht. War auch hilfreich. Hat aber nicht gereicht. Also mussten sie zur „Analyse“. Die Protokolle lesen sich dann beispielsweise so:

(Auszug Therapiesitzung Sonja, Antagonistin): … Die amerikanische Psychologin Norma Haan meint einen Prozess bei den meisten Menschen erkannt zu haben, der in den täglichen Alltag integriert ist und dafür sorgt, dass Wahlmöglichkeiten gesucht und zukunftsorientiert gelöst werden. Sie benutzt dafür den von Robert White geprägten Begriff Coping. … Bei Sonja hat dieses Coping nicht stattgefunden. Allenfalls das von Robert White beschriebene Mastery, das lediglich zur Bekämpfung frustrierender Anforderung führt. Aus Frust verlässt sie die Schule und, als sie nach der Ausbildung ihre erste feste Stelle hat, die Familie. Aus Frust verlässt sie nach und nach alle Liebhaber und demoliert zuletzt auch eine Disko. Sonja will mehr vom Leben, reagiert aber ausschließlich frustgesteuert und erreicht so nichts. Dies hätte früh abgefangen werden können, wenn die Eltern einsichtig für die Entwicklung ihres Kindes gewesen wären oder ein Lehrer verstanden hätte, warum die Leistungen eines unübersehbar begabten Kindes von Klasse zu Klasse schwächer wurden. Eine frühzeitige Jugendtherapie hätte auffangen oder zumindest abfedern können, was Strukturlosigkeit in der Familie und bei der Erziehung angerichtet haben. Da Sonja kein kindliches Trauma durch schlimme Familienverhältnisse gehabt hatte, wäre das möglich gewesen. So trieb sie sich immer enger in eine Spirale, die zwar nicht abwärts – drogengefährdet war sie nie – aber doch in die Stagnation führte. …

(Auszug Therapiesitzung Krischan, Protagonist): … Auf Krisen hatte Kristian schon immer mit der Bewältigungsstrategie „Richtungsänderung“ reagiert, wobei die geänderte Richtung nicht einer Überlegung entsprach, die aus einer objektiven Analyse der Krise entsprang, sondern eher so wie bei einem Hasen, der einen Haken schlägt in die Richtung, die gerade frei scheint. In der ersten Phase seines Lebens, in der Kindheit und Jugend verlor er seine Mutter, er war gerade sieben Jahre alt. In diesem Alter ist es durchaus noch so, dass ein Kind den Vorwurf erheben kann, dass die Mutter weggegangen sei. Bei Kristian setzte sich dies aber fest, und er behielt den Vorwurf sogar als erwachsener Mensch, ohne ihn zu hinterfragen. Hier von einer Neurose zu sprechen, ist nicht ganz verkehrt, wenn auch etwas überzogen. In der zweiten Phase (15 – 30 J.), in der sich auch die Frage nach dem Lebenszweck herauskristallisierte und er sich gegen die Musik und künstlerische Fotografie für die praktische Industriefotografie entschied, lastete er jeder Freundin an, dass sie ihn verlassen habe. Das stimmte auch in den meisten Fällen. Kunstvoll ausgeblendet wurde von Kristian, dass sich manches „Verlassen“ durchaus auf seine bereits erfolgte Hinwendung zu einer anderen vollzogen hatte. Nie kam es ihm in den Sinn, dass dieses „Suchen und Probieren“ eine nicht ungewöhnliche Verhaltensweise der späten Jugend und des frühen Erwachsenenalters ist. Er ging jede Beziehung mit einer Absolutheit an, die allein schon für seine Partnerinnen zur Belastung wurde. In der dritten Phase, dem mittleren Erwachsenenalter zwischen 30 und 45 J. (nach Havighurst zw. 31 – 40/60), fand Kristian durchaus seine berufliche Bestimmung. …

Derart auseinandergenommenes Romanpersonal wird bei der weiteren Ausarbeitung des Romans vielschichtig. Beim Schreiben ergeben sich Situationen jenseits von Klischees, oder bieten sich als passende Klischees an. Aber es mag sein, dass es für manchen nach viel Arbeit und Mühe aussieht, vor allem wenn man kein Fachmann auf dem Gebiet der psychologischen Analyse ist. Muss man auch nicht unbedingt sein, meine ich, es reicht schon ein wenig Grundwissen. Vielleicht einfach ein altes Vorlesungsskript aus dem Keller holen oder den Staub von den alten Psychologiebüchern blasen – wenn man sie noch hat. Oder, was eine noch bessere Idee ist: Die Personenbeschreibung verschriftlichen und jemand geben, der etwas mehr von der Sache versteht, mit der Bitte, eine Analyse zu machen. Reicht oft schon mündlich, ein paar Notizen sind schnell angefertigt.

Aber Vorsicht! Nehmen Sie die Sache nicht auf die leichte Schulter. Zwar können Romanpersonen Sie nicht verklagen, aber sie können Sie heimsuchen. Nachts im Schlaf zum Beispiel oder bei unpassenden Gelegenheiten („Wer ist diese Sonja eigentlich, von der du da immer vor dich hinmurmelst“, fragte meine Frau. „Eine von den 42ern, oder woher kennst du die? Die scheint mir ein richtiges Luder zu sein.“).

Bis zur nächsten Therapiestunde!

Ihr Horst-Dieter Radke

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