Horst-Dieter liest: Jaume Cabré – Senyoria

Don Rafel Massó i Pujades ist Präsident des Königlichen Gerichts von Barcelona – Sa Senyoria. Er liebt die Astronomie, steht nachts bei gutem Wetter mit seinem Teleskop im Garten und beobachtet die Sterne, bevorzugt den Orion, aber auch die Plejaden. Wenn das Wetter schlecht ist, steht er in seinem Zimmer und beobachtet mit dem Teleskop die Nachbarin beim An- und Auskleiden. Im Palast des Marquis von Dosorius hört er an einem Abend eine französische Sängerin, die Don Rafel nicht nur mit ihrer begnadeten Stimme beeindruckt, sondern auch mit ihrem beachtlichen Busen. Allerdings hat sie für ihn keine Augen, sondern ausschließlich für zwei junge Männer, die ebenfalls geladen sind: Andreu, ein junger Dichter und Fernand Sors – von seinen Freunden Nando genannt –, ein junger Offizier, der auch Musiker und Komponist ist. Letzterer begleitet sie bei einem Lied, was den offiziellen Klavierspieler verärgert. Marie de l’Aube Desflors, auch Nachtigall von Orléans genannt, ist nicht nur eine begnadete Sängerin, sondern auch eine anspruchsvolle Liebhaberin. Jung müssen sie sein und gelehrig, und so wird Andreu auserwählt, eine Nacht mit ihr zu verbringen. Anderntags ist die Sängerin tot. Andreu war es nicht, aber sein Medaillon wird bei der Sängerin im Bett gefunden, was zu seiner Verhaftung führt. Der einzige, der seine Unschuld bezeugen kann, sein Freund Nando, ist in militärischen Angelegenheiten unterwegs und nicht erreichbar. Zu allem Unglück hat Nando ein Päckchen bei Andreu hinterlassen, das dieser einem Rechtsanwalt übergeben soll. Auch dieses Päckchen wird gefunden, und als Don Rafel den Inhalt sieht, ist das Schicksal von Andreu besiegelt.

Stück für Stück entfaltet sich das Drama – nicht nur für Andreu, sondern auch für Don Rafel. Für die Leser bleibt anfänglich vieles im Unklaren, denn der Autor rückt die Geschichte nur stückchenweise heraus. Dabei schafft er es, die Empfindungen des Antagonisten – Don Rafel – so plastisch darzustellen, dass der Leser beginnt, Mitleid mit ihm zu empfinden, obwohl er das nicht verdient. Es zeigt sich, dass andere noch böser und schlimmer sind als er – doch um diese geht es in der Geschichte nur am Rande. Auch Nando spielt nur eine kleine, aber nicht unwichtige Nebenrolle, die beinahe das Ende einleitet. Aber es kommt dann doch anders. Dabei ist Nando eine historische Person, nämlich Fernando Sor, der unter Gitarristen kein Unbekannter ist. 1778 in Barcelona geboren, wurde er in Montserrat musikalisch ausgebildet, besuchte die Militärschule und war königlicher Verwaltungsbeamter in Andalusien. Wegen seiner Sympathie mit dem Bruder von Napoleon Bonaparte musste er Spanien verlassen und starb in Paris (1839).

Der Mord wird in diesem Buch nicht aufgeklärt. Er dient nur als Auslöser für die schicksalhaften Verstrickungen einiger Menschen. Die Geschichte beginnt im Oktober 1799 und endet Anfang Januar 1800. Jaume Cabre (* 1947) ist einer der bedeutendsten katalanischen Schriftsteller. Der Roman erschien bereits 1991, die deutsche Übersetzung erst 2009 bei Suhrkamp. Cabré erzählt dicht und eindringlich. Er liebt Aufzählungen, von denen ich anfangs dachte, dass sie mir irgendwann auf den Geist gehen, doch sie haben mich bis zum Ende nicht gestört. Er liebt auch das assoziative Abschweifen in den Gedanken und Gesprächen der Protagonisten und des Erzählers, das Wechseln der Themen innerhalb mehrerer Sätze, doch verliert er sich dabei nicht, sondern findet immer wieder passend zur Erzähllinie zurück. Ein beeindruckendes Szenario, ein beeindruckend zeitloser Roman vor allem deshalb, weil er Beweggründe und Handlungsmotivation der Personen schonungslos offenlegt. Wir sind alle ein bisschen wie Don Rafel. Aber nicht so schlimm, höre ich sofort eine Stimme von irgendwoher. Nein, vielleicht nicht so schlimm. Aber macht es das besser?

Ihr Horst-Dieter Radke

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